Die Reinigung des Gedächtnisses

PAPIERSCHIEBEREIEN Die Unabhängige Historische Kommission erforscht die Bertelsmann Firmengeschichte

Führung durch Vorbild" lautet die Firmendevise von Bertelsmann. Und hatte man nicht vorbildlich reagiert, als Zweifel an der Darstellung der Firmengeschichte für die Zeit des Dritten Reiches aufkamen? Hatte man nicht sofort eine mit Saul Friedländer und Norbert Frei hochrangig besetzte Unabhängige Historikerkommission (UHK) geschaffen, die dieser Frage nachgehen sollte? Ende März trat man auch der Stiftungsinitiative der Deutschen Wirtschaft zur Entschädigung der Zwangsarbeiter bei. Was will man also mehr? Dem Düsseldorfer Soziologen und Politologen Hersch Fischler ist das nicht genug. Fischler ist ein unermüdlicher Rechercheur. Er entdeckte unter anderem das Degussa-Gold, forscht zur Zeit über den Reichstagsbrand und machte eben 1998 den Bertelsmann-Skandal publik. Nun wirft er der Historikerkommission vor, dass sie sich instrumentalisieren lasse und Dokumente als Beleg anführe, über die sie selbst nicht verfüge.

Zur Erinnerung: Im Juni 1998 ließ sich Bertelsmann Vorstandsvorsitzender Thomas Middelhoff im vornehmen New Yorker Hotel Waldorf Astoria mit einem Preis des deutsch-jüdischen Armonk-Instituts auszeichnen. Die positive PR war notwendig, da der Erwerb der ehemals jüdischen Verlagsgruppe Random House in den USA nicht unumstritten war. Middelhoff behauptete damals nicht ohne Stolz, dass Bertelsmann einer der wenigen nicht-jüdischen Verlage gewesen sei, der von den Nazis geschlossen wurde. Offiziell sei das mit Papierknappheit begründet worden. "Aber jeder kannte die wahre Geschichte: Wir haben Bücher verlegt, die vom Dritten Reich als subversiv verboten waren." Auf der firmeneigenen Web Site behauptet man sogar, dass der Verlag 1943 geschlossen wurde, weil der Verlag und dessen damaliger Chef, Heinrich Mohn, als Mitglied der Bekennenden Kirche den Nazis "ein Dorn im Auge" gewesen sei. Diese dreiste Falschdarstellung rief Fischler auf den Plan. Er publizierte einen Artikel in der Schweizer Weltwoche und - was schwerer wog - in der amerikanischen Zeitschrift The Nation. In der Folge ließen Bertelsmann, und vor allem deren PR-Chef Manfred Harnischfeger nichts unversucht, erst die Berichterstattung zu unterdrücken und dann zu verfälschen. Über Harnischfegers Interventionen bei der ARD und dem ZDF, die eine weitere Berichterstattung des 3sat-Magazins Kulturzeit verhindern sollte, berichtete bereits Peter Lilienthal in der Zeitschrift Journalist.

Ansonsten fanden sich auffallend wenig Berichte in den Medien darüber. Zu keinem Zeitpunkt wurden Bertelsmann ausgesprochene Naziaktivitäten oder irgendwelche Verbrechen, wie die Ausbeutung von Zwangsarbeitern, unterstellt. Nur eben dass die Vergangenheit des Verlages umgekehrt auch nicht besonders rühmlich war. Bertelsmann entschloss sich nun zur - radikalen - Aufklärung und setzte die UHK ein, in der neben Saul Friedländer, Norbert Frei auch der Theologe Trutz Rendtorff, sowie vom Börsenverein des deutschen Buchhandels Reinhard Wittmann vertreten sind. Dabei hätte schon ein Blick in die Bertelsmann-Festschrift von 1985 genügt, um Middelhoffs Behauptung vom Widerstandsverlag zu widerlegen. Denn darin schrieb Walter Kempowski hoch ironisch, aber als Freund des Hauses nicht ohne Sympathie, mehr oder weniger nichts anderes, als die Kommission in diesem Januar auf einer Pressekonferenz verkündete.

Die Presse übernahm brav, was ihr die UHK mitteilte und verkündete: große Überraschung. Bertelsmann zeigte sich auch überrascht und Middelhoff entschuldigte sich für seinen angeblichen Irrtum. Allerdings nicht bei Fischler, dem von Harnischfeger zuvor unterstellt worden war, einseitig und nach dem "Windhundprinzip" zu arbeiten. In manchen Formulierungen erwies sich die UHK in ihrem Bericht jedoch mehr als nur diplomatisch wohlwollend gegenüber ihrem Auftraggeber. Lang ließ man sich darüber aus, dass Heinrich Mohn nicht passives Mitglied der SS gewesen sei, wie Fischler schrieb, sondern lediglich förderndes Mitglied. Die Motive Heinrich Mohns, die SS finanziell zu fördern, lagen anscheinend "in der Logik einer allgemeinen Spendenbereitschaft". Mohn spendete schließlich auch an den BDM, die Flieger-HJ und an das Nationalsozialistische Fliegerkorps, konnte sich nach Kriegsende aber nur noch daran erinnern, "gelegentlich in früheren Jahren kleine Beträge" gespendet zu haben. Fischler entdeckte aber auch einige Ungereimtheiten im Zwischenbericht. Er selbst erhielt bis heute, obwohl dies der alleinigen Entscheidung der UHK obliegt, weder Zugang zum Archiv, noch Antworten auf seine Fragen.

Dafür, dass Middelhoffs Behauptungen nicht gänzlich aus der Luft gegriffen waren, benötigte man wenigstens einen wahren Kern. Zumindest die Schließung von Bertelsmann musste erfolgt sein, aus welchen Gründen auch immer. Die UHK kam auch zu dem Urteil, dass der Verlag C. Bertelsmann "unzweifelhaft" im August 1944 als nicht kriegswichtig eingestuft und geschlossen wurde. Fischler blieb aber skeptisch und fragte nach dem Beleg. Denn, so Fischler: "Weder 1998 noch 1999 hatte man diese Urkunde in den Akten finden können. Noch 1999 sagte die UHK gegenüber der Berliner Zeitung, dass sie nicht mehr erwarte, einen Beleg dafür zu finden." Nachdem Fischler insistierte, zeigte ihm Reinhard Wittmann auf der erwähnten Pressekonferenz kurz eine Kopie, auf der zwei Schließungsverfügungen verkleinert abgebildet waren. Eine Kopie davon wurde jedoch nicht herausgegeben. Als nun der amerikanische Journalist John Friedman von der Zeitschrift The Nation Saul Friedländer darauf ansprach, antwortete dieser ihm, dass er dieses Dokument nicht genau kenne, da er an dem Tag, als es in der Kommission diskutiert wurde, krank gewesen sei. Eine Woche später schickte Friedländer an The Nation eine Kopie. Es stellte sich heraus, dass die Kommission kein Original der Schließungsverfügung besitzt, noch nicht einmal eine Kopie, sondern lediglich eine stark verkleinerte Abbildung davon aus einer Bertelsmann-Haus-Illustrierten von 1960, die man rück-vergrößerte. Fischlers Kommentar dazu: "Die kann echt gewesen sein, aber auch eine Irreführung. Nur es ist ganz bestimmt eine Irreführung, wenn auf eine Frage ihres Fundortes im Münchner Senatssaal der Universität geantwortet wird: in den Bertelsmann-Akten." Was soll man dazu sagen, wenn Friedländer in der Frage eines zentralen Dokumentes erstens nicht Bescheid weiß und zweitens wider alle Zunftregeln eine Abbildung als "unzweifelhaften" Beleg präsentiert. Doch dies ist nicht die einzig "blamable Stelle", so Fischler in seinen Vorwürfen gegenüber der UHK.

Als zweites Dokument legte die Kommission den Brief des Wirtschaftsprüfers Möhle vom März 1945 vor, einen Brief, der sich teilweise unterschiedlich deuten lässt. Fischler interpretiert die Äußerungen dahingehend, dass man auch nach der angeblichen Schließung noch weiter produziert haben muss. "Denn im Brief steht auch, dass man für die Weiterproduktion eine Kriegsarbeitsgemeinschaft mit einem anderen Verlag bildete und das noch im März 1945, also sieben Monate nach der angeblichen Schließung. Eine Schließung musste aber im Regelfall innerhalb eines bis maximal in drei Monaten erfolgen." Die Kommission schreibt weiter, dass die Arbeitskräfte intern weiterbeschäftigt wurden. Aber Unternehmen, die man wegen des totalen Kriegseinsatzes schloss, konnten keinesfalls ihre Arbeitskräfte intern weiterbeschäftigen, sondern mussten diese der Kriegswirtschaft zur Verfügung stellen. Wenn Bertelsmann seine Arbeitskräfte weiterbehalten konnte, dann nur deshalb, weil man weiterhin kriegswichtige Aufgaben zu erledigen hatte. Dass der Verlag nach dem Krieg nicht bei Null anfing, sondern auf einen ungeheuren Papiervorrat zurückgreifen konnte, blieb auch der Kommission nicht verborgen. In der Frage des Verfahrens gegen Bertelsmann wegen Papierschiebereien, die man sehr einfühlsam mit der durch die "zentrale Wirtschaftsplanung einhergehende Bürokratisierung" erklärte, steht in ihrem Bericht, dass das Verfahren 1945 mit einem "weitgehenden Freispruch" endete, was immer dies auch heißen mag.

Auch das hat Fischler nachrecherchiert. Die Wehrmacht warf Bertelsmann vor, in Korruptionsgeschäfte verstrickt zu sein. Die Untersuchung begann im Herbst 1943 und wurde von der Gütersloher Kriminalpolizei durchgeführt. Bei Hausdurchsuchungen fand man tatsächlich belastendes Material. Aus den Akten ergebe sich nun, dass die Einstellung des Verfahrens gegen die Bertelsmann-Mitarbeiter enorm großzügig von den Staatsanwälten des Sondergerichts Bielefeld gehandhabt wurde. Dies sei die Strategie Heinrich Mohns gewesen, das Verfahren von der Wehrmachtsjustiz zum Sondergericht nach Bielefeld zu verlagern, da man dort sehr gute Einflussmöglichkeiten besaß, was auch aus dem Brief von Möhle hervorgehe. Darin schreibt dieser, dass er seinen persönlichen Kredit in die Waagschale geworfen habe, um die Einstellung des Verfahrens herbeizuführen, und wie gut er vorab informiert wurde und wieviel good will er von Seiten des Sondergerichtes vorfand. Allerdings begann das Reichskriminalpolizeiamt noch in den letzten Kriegstagen mit erneuten Ermittlungen.

Dass die UHK in einem Vergleich der neun größten Produzenten von Frontausgaben merkwürdigerweise die Heimbücherei von John Jahr nicht nannte, ist dabei eher eine Marginalie. John Jahr wurde später Partner von Bertelsmann, und Familie Jahr ist noch immer Mitinhaber des Gruner + Jahr Verlages. Fischler meint dazu lapidar: "Mich wundert das nicht. Mich wundert auch nicht, dass zum Beispiel der Stern, obwohl Journalisten dort über dieses Thema berichten wollten, bisher keinen Bericht brachte." Hersch Fischler weiß noch viele andere merkwürdige Details aus der Firmengeschichte. Die Kommission schweigt auf Anfragen. Norbert Frei, ein vielreisender Mensch, dem man brieflich einige Fragen zuschickte, anders ist er nicht zu erreichen, fand immerhin Zeit genug, diesen Fragenkatalog umgehend an das Kommissionsmitglied Reinhard Wittmann zu schicken. Wittmann wiederum verweigerte eine Antwort auf die Fragen, da man nur mit einer Stimme sprechen wolle, was konkret mit keiner bedeutet. Einzig, dass sie allein die Zeit zwischen 1933 und 1945 erforschen und sich daher nicht um den aktuellen Kontext kümmern, war ihm zu entlocken. Man betreibt reine Wissenschaft. Kritik wird in ungezügelte Produktivität umgemünzt. Nicht mehr allein die Bertelsmann-Firmengeschichte ist Forschungsziel, sondern die gesamte deutsche Verlagsgeschichte des Dritten Reiches. Das wird Jahre dauern. Wer wird sich am Ende, wenn mehrere Bände als ein neues Standardwerk vorgelegt werden, erschienen bei Bertelsmann, noch an den ursprünglichen Auslöser des Forschungsvorhabens erinnern: eine kleine banale Lüge in einer Firmengeschichte.

In den vergangenen Jahren wurden diverse historische Kommissionen eingesetzt. Sie scheinen die ultima ratio zu sein. Verbunden war damit am Ende immer eine moralische oder auch judikative Beurteilung. Carlo Ginzburg verglich einmal den Historiker mit dem Richter, um aber auch sofort auf deren prinzipielle Unterschiede einzugehen. Doch die Historikerzunft scheint dessen ungeachtet immer mehr den judikativen Diskurs zu verinnerlichen. Was auch vor Gericht standhält, das gilt. Doch dies ist lediglich die justiziable Wahrheit. Bereits die Installierung einer Kommission, die letztendlich als eine Art historisches Schiedsgericht fungieren soll, nimmt eine Struktur vorweg, die bewusst oder unbewusst der judikativen Logik folgt, ja sie sogar auf gewisse Weise imitiert und insofern den möglichen Horizont der Antworten vorgibt. Seit den Nürnberger Prozessen bis zu den gegenwärtigen Verfahren gegen die Auschwitz-Leugner Irving und andere durchzieht die Last des Beweises die Erinnerung an die NS-Vergangenheit. Seltsam, dass Norbert Frei, obwohl er selbst dieses auf einem Vortrag am Einstein-Forum in Potsdam zum Thema machte, als Kommissionsmitglied nicht reflektiert. Insofern log auch die Kommission nicht, wenn sie alte Wahrheiten als neue Erkenntnisse verkündete. Denn erst jetzt wurde die Wahrheit beweiskräftig. Ein Richter muss theoretisch alles, was er vor dem Prozess über die zu verhandelnde Angelegenheit wusste, im Prozess vergessen, um vorurteilsfrei zu urteilen. Ähnlich werfen die Kommissionsmitglieder ihr eigenes historisches Gedächtnis über Bord und prüfen ausschließlich, was als Fakt und Dokument vor ihnen liegt, auch wenn sie in manchem, wie Fischler nachwies, lax damit umgingen. Dieses Beispiel der UHK zeigt einen Fall von Betriebsblindheit, der prototypisch für einen Großteil der Historikerzunft sein dürfte.

Thomas Middelhoff hat sich entschuldigt ebenso wie Papst Johannes Paul II. Im Vergleich zu den Sünden der Kirche hatte Middelhoff nur eine lässliche Sünde zu beichten. Beide, Bertelsmann wie der Vatikan, beriefen zu diesem Zweck zuvor eine historische Kommission. Erklärte Zielsetzung der vatikanischen Kommission war die purificazione della memoria, die Reinigung des Gedächtnisses, auch wenn die Kommission selbstverständlich diesen Begriff anders verstanden haben will, als dies bei einem wortwörtlichen Gebrauch der Fall sei. Von ihrem Anspruch her und auch de facto spricht die Kommission, zumindest für einen längeren Zeitraum, das letzte Wort. Damit geht auch eine schleichende Privatisierung und somit Enteignung des historischen Wissens einher. Übrig bleiben die Kommissionen und ihre Berichte: VW, Bertelsmann, Bergier, Daimler-Benz, der Vatikan. Sie werden alles geordnet hinterlassen: die Archive, die Bestimmung über deren Verwendung, ihren Zugang, die Wahrheit.

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