Wiederkehrende Verwechslung

Arbeit An jedem 1. Mai geht es um die Wurst. Genauer gesagt: um die Bratwurst. Die meisten haben das auch verstanden, nur die politische Linke noch nicht

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Wiederkehrende Verwechslung

Foto: Sean Gallup/ AFP/ Getty Images

Wenn einige den 1. Mai als Kampftag der Arbeiterklasse betrachten, übersehen sie, dass dieser Tag eigentlich ein Kampftag vor allem der Partei- und Gewerkschaftsfunktionäre ist. Unzählige Schirmchen und Stände müssen aufgebaut, Reden geschrieben, Flyer verteilt, Bratwürste gebraten und Bier gezapft werden. Für die Funktionäre jedes mal viel Arbeit am Tag der Arbeit.

Voller werden die mit Schirmchen und Ständen gespickten Marktplätze mit den Jahren zwar nicht, aber es kommen noch genug Leute vorbei, um beim Stand ihrer Wahl eine Wurst und ein Bier abzugreifen und vielleicht sogar mit dem halben Ohr nebenbei ein paar Wortfetzen der immergleichen Funktionärsreden mitzubekommen. Wem man dabei zuhört ist häufig egal. An keinem anderen Tag im Jahr dürfte die politische Eintracht zwischen CDU, LINKE, SPD, Grünen, Kirchen und Gewerkschaften größer sein. Der politische Mainstream und die einfachen Besucher wissen so recht genau, was sie an diesem Tag haben. Vielleicht kommt sogar noch hinzu, dass man etwas später aufstehen kann als sonst und Zeit hat, abseits der Maloche mit Kolleginnen und Kollegen ins Gespräch zu kommen.

Es gibt allerdings immer wieder einen Teil des politischen Spektrums, die den 1. Mai nicht für das halten, was er maßgeblich ist. Sie halten das ritualisierte Volksfest tatsächlich für eine hochpolitische Veranstaltung. Es ist die politische Linke, beginnend links der SPD, die in nicht enden wollender Regelmäßigkeit die Anrufung der Lohnarbeit, das Lob der Plackerei und die Bestimmung der Lohnhöhe für einen revolutionären und antikapitalistischen Akt hält. Bis auf einige Ausnahmen wird die Kritik des Kapitalismus bis zur Unkenntlichkeit entstellt zu einer Kritik des Kapitals vom Standpunkt der Lohnarbeit aus. Die Lohnarbeit erscheint aus dieser Perspektive nicht als eine Seite der kapitalistischen Medaille, sondern als der gute Wesenskern kapitalistischer Gesellschaften, der leider nur immer zu kurz kommt.

Zweifelsfrei verschärfen sich die Bedingungen, unter denen gearbeitet werden muss, für viele Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter immer mehr. Das Gehalt wächst kaum oder gar nicht, der Stress und damit auch die arbeitsinduzierten Krankheiten nehmen zu und viele müssen, um über die Runden zu kommen, mehr als einem - manche sogar mehr als zwei - Jobs nachgehen. Diese immer dominanter werdende Form von „Flexibilität“ der Lohnarbeit bringt auch eine steigenden Grad der Prekarität der eigenen Interessenvertretung mit sich. Die Gewerkschaften kämpfen seit Jahren mit dem Problem, die mehrfach und prekär beschäftigten Menschen, gewissermaßen die Tagelöhner des 21. Jahrhunderts, erreichen und einbinden zu können. Das hängt nicht nur mit vielerlei Schweinereien der Arbeitgeber zusammen, sondern schlichtweg mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Betroffenen. Wer ständig den Job wechselt, auf Kurzarbeit oder Leiharbeit gesetzt ist, hat es schwerer sich zu organisieren, als diejenigen, deren Arbeit in eine feste Stammbelegschaft eines bestimmten Unternehmens eingegliedert ist. In vielen europäischen Ländern kommt hinzu, dass die Zahl derer, die in die Tretmühle der Lohnarbeit eingebunden sind und damit jedoch mit etwas Glück zumindest noch ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe besitzen, abnimmt und einer wachsenden Zahl von Lohnarbeitslosen gegenübersteht, die als Vagabunden der Arbeitsämter von einer Beschäftigungssimulation zur nächsten gejagt werden. Gemeinsam ist dieser Menschen mit Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeitern ein Alltag, der von Stress, Angst vor dem Monatsende und Sorge um die eigene Zukunft geprägt ist. Vor diesem Hintergrund wäre es töricht, die Organisierung der Beschäftigten und das Engagement für weniger prekäre Arbeits- und damit auch Lebensbedingungen zu verurteilen.

Gleichzeitig ist es angesichts der meisten Tarifverhandlungen ein schlechter Scherz, die Tarifrunden in Deutschland als „Kampf um höhere Löhne“ zu bezeichnen. Da sitzen hochbezahlte Arbeitgeber ebenso hochbezahlten Gewerkschaftsfunktionären gegenüber, um bei Apfelschorle oder Rotwein zu klären, ob man 0.5 oder doch 0.7 Punkte über den Inflationsausgleich hinausgehen will. Obwohl es aus Sicht der Lohnarbeitenden wenig naheliegenderes gibt, als für höhere Löhne zu streiten, ist die teilweise revolutionäre Attitüde, mit die politische Linke auf dieses sozialpartnerschaftliche Feilschen um Prozentpunkte schaut, schlichtweg durchgeknallt.

Es gibt gelinde gesagt nichts reformistischeres, als an der Lohnschraube zu drehen. Oder anders gesprochen: die Forderung des Lohnarbeiters nach höherem Lohn ist so antikapitalistisch, wie die Forderung des Soldaten nach einem besseren Sturmgewehr pazifistisch ist. Die Kritik des Kapitalismus ist gerade und ursprünglich auch eine Kritik der Lohnarbeit als brachialem und konkreten Ausdruck abstrakter kapitalistischer Herrschaft. Das Problem der Lohnarbeit lässt sich ebensowenig auf die Höhe des Lohns, die Arbeitszeit oder die Form der Interessenvertretung und Mitbestimmung reduzieren, wie sich eine Kritik des Krieges auf den Einsatz bestimmter Waffengattungen oder die Verpflegung der Truppenteile herunterbrechen lässt. Lohnarbeit, schreibt Marx in seiner Kritik des Gothaer Programms, sei „ein System der Sklaverei, und zwar einer Sklaverei ist, die im selben Maß härter wird, wie sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte der Arbeit entwickeln, ob nun der Arbeiter bessere oder schlechtere Zahlung empfange.“

Die politische Linke sollte sich befreien aus ihrer kritiklosen Hingabe zur Lohnarbeit. Sie soll deshalb nicht aufhören, die Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter dieser und jener Länder der Welt in ihren ganz praktischen und alltagstauglichen Forderungen zu unterstützen, sie soll nicht aufhören, in genau diesen Punkten gemeinsame Sache mit den Gewerkschaften zu machen und sie darf auch weiterhin Würste aller Art verteilen und auf allen Marktplätzen dieser Republik das ein oder andere Bier zapfen. Dieses praktische Handeln jedoch als Kritik des Kapitalismus zu verkaufen ist sträflich. So wie es kaum ein größeres Vergehen an der Idee des Sozialismus gab als dessen autoritäre Erscheinung als real-existierenden Staatsmonopolkapitalismus, gibt es kaum ein größeres Vergehen an der Kritik des Kapitalismus als diese mit einere anderen Organisierung der Lohnarbeit zu verwechseln.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Tomas Vanollin

Freier Autor aus Leipzig. Stadt, Land, Politik, Kommentare. Oder: alles außer Fußball und Oper.

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