"Zum würdigen Leben gehört mehr als nur soziale Gerechtigkeit. Eine andere Bedingung ist die Identität. Die soziale Gerechtigkeit muss gegen Kapital und Konzerne errungen werden - aber die Identität gegen die Migration. Das Thema ist für die Linken gefährlich: In der Theorie soll doch der Ausländer ein Freund sein. Aber in der Wirklichkeit ist die Einwanderung ein Quell der Sorge. Wenn die Aufgabe einer linken Regierung die Solidarität mit der arbeitenden Bevölkerung ist, dann gehört dazu auch der Schutz der Heimat." Zitiert Leo Fischer Jakob Augstein in Neues Deutschland gestern.
Dieser Text von Augstein ist umstrittend, im gleichen Beitrag von Fischer wurde ihm sogar schon Nationalsozialistische Tendenzen zugeschrieben, was etwa hysterisch ist - sie sind aber aus gutem Grund hysterisch. Augstein hat völlig Recht wenn er es behauptet, ein Problem wird nicht verschwinden wenn man es ignoriert. Er hat auch Recht wenn er es behauptet, es gebe in Deutschland, auch unter vielen Linken - das kann auch ein Ausländer wie ich bemerken - eine Art Identitätskrise. Wo täuscht sich der Linkspopulist?
Die Identitätskrise ist zwar der großen letzten Zuwanderung zeitlich folgt, kausal folgt es ihr aber erst indirekt. Die Angst vor dem Fremden steckt nicht im Fremden, sondern im Selbst. Viele Linken verstehen das auch, aber nehmen diese Einsicht in die Richtung der null Auseinandersetzung. Das ist also die Gleichung: Entweder das Problem liegt an die Ausländer, dann können wir darüber öffentlich reden, oder es liegt an uns, was uns zum Schweigen bringt. Diese Denkweise an sich ist schon ausländerfeindlich, aber es ist auch echt gefährlich. Zunächst weil es von der Annahme ausgeht, man kann keine rassismusfreie Auseinandersetzung bezüglich der immer verändernden Identität Deutschlands führen, und die Befreiung von Rassismus kommt nur durch üben.
Zweitens, es führt zu Ungesagten. Nichts ist der Linke in 2017 gefährlicher als die Ungesagte. Der Feul der AfD ist ja "Mut zu x" - wir sagen das, was die andere nicht zu sagen wagen. Wir retten euch von den Ungesagten, sagt die AfD im Subtext. Wenn man über ein Problem nicht redet verschwindet es nicht, schreibt Augstein, und ich füge hinzu - und verschärft es auch sogar. Es ist mir als Ausländer gefährlich, dass die neue Identitätsfragen in Deutschland nicht diskutiert werden, nicht andersrum. Man muss sich trauen, solche Diskussion Rassismuslos führen zu können, weil die einzige Alternative für eine Rassismuslose Diskussion ist ein diskussionsloser Rassismus.
Ich habe also den Text diesmal nicht korrigieren lassen, man muss ja das Üben irgendwo anfangen.
P.S.
Liebe Neues Deutschland - Augstein übt kein Israel-Bashing, sondern Kritik an Israel, und diese Kritik als antisemitisch zu bezeichnen ist ungefähr wie die Kritik an Milo Yiannopoulos' Faschismus reiner Homophobia zuzuschreiben.
Kommentare 10
Eine nationale Identität zu besitzen ist ja nun nicht sonderlich spektakulär, aber für Linke ist offenbar alles ein Drama.
Nationalisten überziehen, wenn sie die nationale Identität an sehr prominenter Stelle sehen, aber ansonsten fühlt man sich in aller Regel einer bestimmten Familie, Region, Denkrichtung, einem Geschlecht, einer Hautfarbe, einer besitmmten sozialen Schicht zugehörig, einer Religion, dann auch einem Bundesland und einer Nation. Dann kann man noch Jazz lieben und Wanderungen, also Hobbies, die Wahlverwandtschaft und aus all dem wird dann Identität.
Der, die oder das andere ist immer ein Quell der Sorge (nach Sartre sogar die Hölle). Gleichermaßen natürlich ein Quell der Freude. Das Leben ist eben ambivalent, aber das hält nicht jeder aus. Leute, die in Fragen der Identität die Nation groß schreiben sind mit der Ambivalenz zumeist überfordert. Leute, die sie zu klein schreiben vermutlich auch.
IDentität wird immer von außen, vom "Oben" definiert. Es ist keine innerliche, geerberte oder erworbene Qualität oder gar ein natürliches Charakteristikum. Sie ist eine Illusion in einer globalisierten und gleichgeschalteten Weltökonomie ohne Traditionen ...
Damit der soziale Kampf der ökonomischen Opfer sich nicht gegen die Verursacher der Misèren, gegen die herrschende Struktur selbst richtet, wurde die "nationale Identität" erfunden. Der Nationalstaat ist noch nicht sehr alt. Er ist ein Kampfbegriff der konservativen bürgerlichen Herrschaft, der sich in protektionistischen Krisenzeiten gegen extremen Liberalismus bzw. gegen die internationale Konkurrenz des Marktkapitalismus richtete.
Heute dient Identität noch denselben Zwecken. Nicht nur werden die angeblichen Ursachen der Misère nach scheinbar außen verlagert (siehe als Extrem den Nationalsozialismus), sondern die Opfer der durch Marktwirtschaft erzeugten Misèren werden damit aufeinander gehetzt. Die Geflüchteten sind vor demselben geflüchtet, was die, die sich gegen Geflüchtete meinen wehren zu müssen, dazu veranlasst sich gegen sie zu wehren: die kapitalistische Misère.
In Zeiten der Krise der kapitalistischen Marktwirtschaft beeilen sich die Besitzstandswahrer die sozial Ausgegrenzten und "Überflüssigen" aufeinander zu hetzen, um sich selber zu schützen, weil sie selbst nicht an Kooperation und Solidarität glauben, sondern an "fressen und gefressen werden", weil sie immer nur gefressen haben. Diese Position deligieren sie an die ärmsten Opfer, die dann leider glauben, sie häten mehr Rechte als Opfer aus anderen Regionen des Weltmarktes. Wer's glaubt wird "seelig" oder eben Rassisst, xenophob oder mindestens irrational ängstlich.
Der Kampf ist und bleibt dennoch ein sozialer, der aber nicht von Armen gegen Ärmere gewonnen werden kann. Er wird indes von den Reichsten gewonnen, wenn sie die Armen bekämpfen.
sorry : Er wird indes von den Reichsten gewonnen, wenn sich die Armen bekämpfen.
Ich fand den Beitrag im ND etwas rustikal, aber vollkommen richtig und den Zorn, der ihn offensichtlich getrieben hat, berechtigt.
Augsteins Spon Kolumne hat mich ziemlich erbittert. Er will halt auch dabei sein, wenn die Tabus nur so purzeln. Mir absolut zuwider, diese Art, dauernd mit dem Zeitgeist ein Tänzchen zu wagen. Mal so und nächste Woche so. Fürchterlich.
Er schreibt im Spiegel: Die soziale Gerechtigkeit muss gegen Kapital und Konzerne errungen werden - aber die Identität gegen die Migration.
Das ist der Gipfel, wirklich.
Er definiert "Heimat" in der Tat nur als das, was man gegen das "Andere" "Fremde" behaupten muss. Dass Migranten Konkurrenz bei Arbeitsplätzen und Wohnraum erhöhen, gehört zu den Sätzen, die bei jedem Populisten andocken. Konkurrenz ist in dieser Gesellschaft immer präsent, sie allein jetzt mit der Zuwanderung wahrzunehmen, ist irgendwie nicht so recht schlüssig, aber halt wohlfeil.
Deutschland ist längst ein Einwanderungsland und Augstein redet wie einer, der das erst jetzt überhaupt wahrnimmt. Und als sei Deutschland für Migranten nicht auch Heimat.
Herr Augstein, im Zweifel Populist ?
Die Repliken Leo Fischers und Idogs (wenn es doch mehr von ihrer Art gäbe!) sollten/müßten Ihnen die Schamesröte ins Gesicht treiben!
Es ist ja beides richtig: die Reichen bekämpfen ja die Armen (Georg Schramm hat's anschaulich erklärt), auch, in dem sie die Armen gegen die Armen kämpfen lassen.
"Man kann die EINE Hälfte der Armen immer kaufen, um die ANDERE zu töten." [Gangs of New York]
*****!
Ziemlich irre alles. Der Scheißhaufen von Leo Fischer ganz besonders. Keine Ahnung, was Augstein reitet, in der einen Woche Hü und in der nächsten Hott zu schreiben. Das geht ja jetzt schon seit Jahren so. Aber ich verstehe nicht einmal Magdas Reaktion auf Augsteins jüngsten S.P.O.N.-Schrieb. Die Leute, die sich darüber aufregen, sollen das mal lesen - und es mit ihrem Putin-Putin-über-alles-Dreck abgleichen, den sie hier jahrelang abgesondert haben. Aber ich sag da nix mehr zu und schüttel nur noch mitm Kopp. Sowas Kaputtes und Dämliches wie die dt. Linke hab ich mein Lebtag noch nich erlebt.
... war das nicht der Mann, der Anfang 2016 "Deutschland erwacht" schrieb?
Nun ja - die Zeiten müssen sich seitdem wohl geändert haben.
Davon abgesehen ändert sich auch der "Spiegel" - diese Woche sieht er aus, als hätten "Focus" und "Men's Health" ein Kind gekriegt: Mit der Ampel gegen das rot-rote Schreckgespenst / Was der rasante digitale Fortschritt dem Menschen abverlangt / Wie wir schlafend unsere Leistung verbessern.
So ein Nachrichtenmagazin ist nun mal keine schlichte Artikelsammlung. Es muss auch alles irgendwie zusammenpassen, wie in einem schlicht arrangierten Feldblumenstrauß.