All das Erkämpfte

Vision Viele Linke messen die Realität stets an ihrer Utopie. Das kann ja nur schiefgehen
Ausgabe 51/2018
Wer die Verhältnisse ändern möchte, muss erstmal den Leuten klarmachen, dass sie überhaupt veränderbar sind
Wer die Verhältnisse ändern möchte, muss erstmal den Leuten klarmachen, dass sie überhaupt veränderbar sind

Foto: imago/IPON

Was viele nicht wissen: „Das gute Leben“ ist in Wahrheit eine Maßeinheit, mit der Linke den Abstand zum noch nicht Erreichten angeben. Nur wenige dürfen die geheimen Instrumente benutzen, mit denen man die jeweiligen Werte ermitteln kann. Es kommen dabei immer ziemlich große Zahlen heraus.

Denn Linke sind nie zufrieden. „Das gute Leben“ bleibt stets Vision. Auch wird alles schlimmer. Klimakrise, Weltunordnung, Kaputtalismus – „uns aus dem Elend zu erlösen“, hatte Eugène Pottier 1871 die Marschrichtung ausgegeben. Das ist jetzt fast 150 Jahre her. Und die Linken müssen immer noch laufen, laufen, laufen. Man bekommt davon Plattfüße und schlechte Laune. Oft merkt man das den Linken an.

Gegen die Bestimmung, jene Bewegung sein zu dürfen, die „alle Verhältnisse umzuwerfen“ beauftragt ist, „in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, soll hier keineswegs polemisiert werden. Irgendwer muss es ja machen und richtig ist es zudem. Dennoch könnte es eine Überlegung wert sein, über zwei mit der Maßeinheit „gutes Leben“ verbundene Fragen nachzudenken: den Immerschlimmerismus und das Problem der gelösten Probleme.

Letzteres ist auch als „Gesetz der zunehmenden Penetranz der negativen Reste“ bekannt. Der Philosoph Odo Marquard hat es formuliert, in der Psychologie ist es gut erforscht. Gerade gab es wieder eine Studie dazu: Wenn Probleme gelöst werden, bringt uns eine Eigenart der Wahrnehmung dazu, weniger den erreichten Stand der Lösung zu sehen, sondern noch mehr Umstände als problematisch zu erachten. Psychotherapeuten sprechen von Bahnung: Selbst wenn das Problem schon ganz oder teilweise geknackt wurde, die Wahrnehmung vom Problem bleibt dominant.

Nein, nein, nein, das ist kein Plädoyer für das Schönreden von Zuständen, die man für kritikwürdig halten sollte, solange der Abstand zum noch nicht Erreichten größer als null ist. Aber es kann nicht schaden, sich der Limitierungen bewusst zu sein, die das Wahrnehmen von Verbesserungen erschweren.

Klar, nicht in jedem Fall liegt das Problem mit dem Erreichten darin, dass „nur keine Sau darüber spricht“ (Andrea Nahles). Es gibt auch Fälle von Politik, bei denen es schwerfällt zu erkennen, wie sie den Abstand zum noch nicht Erreichten überhaupt verkleinern könnte. Aber zurück zu den Linken. Wenn die darauf hinweisen, dass dieses und jenes schlimmer geworden ist, die Armutsgefährdung etwa, haben sie einerseits nicht unrecht, machen andererseits aber einen Fehler, sofern sie sich beim Reden darauf beschränken. Warum?

Wer per Kritik die Verhältnisse ändern möchte, sollte sich klarmachen, dass eine Voraussetzung erfolgreichen Handelns die ist, dass die Leute die Verhältnisse überhaupt als veränderbare begreifen. Wer aber nur die Erfahrung nährt, dass alles immer schlechter werde, befeuert Angst – und die wird in der Regel eher von rechts bewirtschaftet.

Nun wäre es freilich auch keine gute Idee, sich darauf zu verlegen, nur die historischen Erfolge anzusprechen. Aber es mag nicht schaden, sich und anderen hin und wieder vor Augen zu führen, dass es den meisten heute dann doch ein bisschen besser geht als zu Pottiers Zeiten. Es ist vielleicht noch nicht „das gute Leben“, das es für Linke immer nur als Ziel, als Zukunft gibt. Aber mal ehrlich: Wer hat denn das schon Erreichte erkämpft? Genau. Redet mehr darüber.

Tom Strohschneider war Redakteur des Freitag, arbeitete dann kurz bei der taz und von 2012 bis 2017 als nd-Chefredakteur

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