Es geht nicht nur um Behälter

Renaissance einer Bewegung Warum die Atomkraftgegner in Gorleben einen so unerwartet großen Zulauf hatten

Der Erfolg von Protesten lässt sich nicht so leicht bemessen. Sicher, eine Nazikundgebung kann per Gegendemonstration verhindert werden. Ab wann aber kann man sagen, die Aktionen gegen einen Castor-Transport ins Zwischenlager Gorleben seien gut gelaufen? Dass der strahlende Müll seinen umstrittenen Bestimmungsort am Ende erreicht, stand vorher fest. Offen war allenfalls: Wie lange würden die Atomkraft-Gegner dieses Mal die Behälter aufhalten. Und wie viel würden sich beteiligen?

Eine Antwort auf die Frage, wie erfolgreich die Proteste im Wendland waren, findet man also am ehesten auf der Ebene des Vergleichs mit der eigenen Geschichte. Als 1977 der damalige CDU-Ministerpräsident Niedersachsens, Ernst Albrecht, bekanntgab, den Gorlebener Salzstock als Endlager für radioaktiven Müll nutzen zu wollen, demonstrierten drei Wochen später 20.000 Menschen dagegen. Die folgenden Aktionen der Gegner wurden ebenso legendär wie das oft brutale Vorgehen der Polizei. Beim Castor-Transport vor zwei Jahren waren es gerade einmal 5.000 Demonstranten. Dass nun wieder weit über 16.000 Kernkraft-Gegner auf die Straßen und Schienen gehen würden, damit hatten selbst die Organisatoren nicht gerechnet. Kurzum: Gorleben 2008 war ein großer Erfolg.

Dieser wird auch nicht kleiner, wenn man auf die günstigen Umstände verweist - so man beim Thema Atompolitik überhaupt von solchen sprechen möchte. Die Nachrichten aus dem von Absaufen und Einsturz bedrohten Forschungslager Asse, die Pannen in den Atommeilern, die immer lauteren Forderungen nach längeren Laufzeiten für Kernkraftwerke und einem Ausstieg aus dem Atomkonsens, ein bevorstehender Bundestagswahlkampf mit energiepolitischem Charakter - all das hat dazu beigetragen, dass man nach den diesjährigen Protesten von Gorleben von einer Renaissance des Widerstandes reden kann. Der Sozialforscher Dieter Rucht spricht von "etlichen Leuten", die "vor 30 Jahren mit dabei waren und jetzt erstmals wieder mitmachen". Und viele, die diese Woche aus dem Wendland zurückkehrten, berichten begeistert von den vielen jungen Teilnehmern, die erstmals an die Castor-Strecke gekommen sind.

Gorleben hält - das ist die andere Seite der Medaille - einer Gesellschaft den Spiegel vor, die immer lethargischer wird. Zwei entscheidende Faktoren der Mobilisierung wirken bei anderen, ebenso bedeutsamen Themen offenbar nicht: direkte Betroffenheit und große Tradition. Während sich im Wendland einheimische Landwirte auf ihre Traktoren setzen und angereiste Altlinke in Erinnerungen schwelgen, haben die Demonstrationen gegen den Afghanistankrieg nur sehr geringen Zulauf - obwohl es in der Bundesrepublik einmal eine sehr starke Friedensbewegung gegeben hat. In Umfragen erklärt eine deutliche Mehrheit ihre Ablehnung der Bundeswehreinsätze am Hindukusch - allein: Es bleibt beim anonymen Nein am Telefon. Gegen die Rente mit 67 und gegen Harz IV geht kaum noch jemand auf die Straße - was nicht daran liegen kann, dass niemand davon betroffen ist. Der jüngste Armutsbericht belegt das Gegenteil, und Umfragen zeigen immer wieder, wie verbreitet die Ablehnung der beiden Reformwerke ist. Doch auch diese demoskopische Mehrheit bleibt lieber zu Hause.

Auffällig ist, dass im Vergleich dazu die Castor-Proteste einen beachtlichen Zulauf haben, obwohl der sich im Wendland manifestierende Widerstand der einer Minderheit ist. Atomkraft polarisiert nicht nur - sie hat inzwischen bei vielen Menschen auch wieder ihren Schrecken verloren. Noch vor zwei Jahren waren 70 Prozent der Deutschen für den Ausstieg aus der Kernkraft. Die Proteste waren damals aber eher verhalten. Heute dagegen befürwortet eine knappe Mehrheit längere Laufzeiten für Atommeiler - und Gorleben erlebt eine Renaissance des Widerstandes. Da wäre ein wenig Ausstrahlung ausnahmsweise gar nicht schlecht.

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