Hallo, Pappkamerad!

Erzählung Der Linksliberalismus ist an allem schuld, da ist man sich einig. Und das nicht erst seit gestern
Ausgabe 50/2018
Karl-Hermann Flach, ganz ohne Kaffeespezialität
Karl-Hermann Flach, ganz ohne Kaffeespezialität

Foto: Sven Simon/Imago

Haben Sie sich in letzter Zeit kräftig über Linksliberale empört? Sie müssen sich ranhalten, das Jahr ist bald vorbei, und wer weiß, ob 2019 nicht ein neuer Pappkamerad aufgestellt wird, auf den von allen Seiten eingedroschen werden kann. Warum die Linksliberalen so schlimm sind? Fragen Sie die Zeitung, in der man sonst die Gedanken des Kapitals für seine eigenen hält: zu links, diese bunten Vögel mit ihrem Vielfaltsgehabe. Und die Wirtschaft! Oder fragen Sie Leute aus der Partei, die früher den Gedanken des Kapitals noch eigene entgegenzusetzen wusste: Voll neo, diese Liberalen! Und postmodern sind die auch noch! Wenn Ihnen solche brillanten Argumentationen nicht einleuchten, stellen Sie sich Leute wie den Autor dieser Zeilen vor. Ich beherrsche einen Großteil der Medien, jette zum Einkaufen nach New York und mache mich dort über migrantische Niedriglöhner lustig, die an der Abfertigung arbeiten. In der CDU habe ich für Sozialdemokratisierung gesorgt und Merkel erschaffen. Die Sozialdemokraten haben durch meinen Einfluss den dort sonst diszipliniert praktizierten Klassenkampf völlig vergessen. Linke Wahlpleiten? Meine Schuld. Konservative? Genauso. Leute wie ich reden den ganzen Tag nur über offene Grenzen und Ökokram, die Kinder werden im veganen viersprachigen Kinderladen auf Moralismus und Kosmopolitismus gedrillt. Morgens verachte ich Arbeiter aus ländlichen Gebieten, mittags bin ich intolerant zu „Asylkritikern“, und abends hecke ich den Todesstoß für die Dieselgesellschaft aus. Natürlich wird dabei rund um die Uhr Latte macchiato getrunken.

Ein kluger Mann hat einmal gesagt, der Sozialismus ist des Liberalismus’ „legitimer Erbe“. 72 Jahre nach dieser Erkenntnis des Sozialdemokraten Eduard Bernstein gab es ein linksliberales Programm gegen die „permanente Überprivilegierung der Besitzenden gegenüber den Besitzlosen, der Reichen gegenüber den Armen, des Faktors Kapital gegenüber dem Faktor Arbeit“. Schon klar, es war nur ein Programm. Aber von welcher guten Idee kann man das nicht sagen?

Der FDP-Politiker Karl-Hermann Flach hat einmal sinngemäß geschrieben, der Linksliberalismus sei für die einen eine stinkende Leiche, für die nächsten diene er bloß dazu, die Privilegien „bestimmter Schichten mit dem Aroma übergeordneter Ideale zu würzen“, und den dritten gelte er schlicht als nützlicher Idiot. Das war 1971. Die Zeiten ändern sich eben doch nicht.

Tom Strohschneider war Redakteur des Freitag, arbeitete dann kurz bei der taz und von 2012 bis 2017 als nd-Chefredakteur

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