Mindestlohn für wie viele?

Zahlensalat Der Bundestag hat Mindestlöhne beschlossen. Wer in den Genuss der Gehaltsuntergrenzen kommen, geht im Zahlensalat sozialdemokratischer Erfolgsmeierei unter

„Mindestlohn für fast vier Millionen Arbeitnehmer“, prangt heute auf der Titelseite einer großen deutschen Tageszeitung. Doch was heißt hier fast? Wie viele Beschäftigte würden tatsächlich in den Genuss der gestern zunächst vom Bundestag verabschiedeten Regelungen kommen? Eine einigermaßen belastbare Zahl gibt es offenbar nicht und das gibt vor allem Sozialdemokraten die Möglichkeit, etwas für ihr lange Zeit im Dispo dümpelndes Erfolgskonto zu machen.

Schon kurz nach der Bundestagsberatung am Mittwoch sah man die hoch erfreute SPD-Vizevorsitzende Andrea Nahles auf den Fluren des Parlaments von einem „guten Tag“ für „fast vier Millionen“ Arbeitnehmer sprechen. SPD-Generalsekretär Hubertus Heil sprach im Laufe des Tages in einer Mitteilung von „mehr als 3,5 Millionen“ Begünstigten. Und der zuständige SPD-Bundesarbeitsminister Olaf Scholz kündigte an, die Lohnuntergrenzen würden „künftig über drei Millionen“ Menschen zugute kommen.

Mindestlöhne für irgendeine Menge zwischen drei und vier Millionen Menschen - geht es nicht etwas genauer? Es geht, allerdings kommen dann andere Zahlen heraus. Die übertriebener Distanz zur SPD eigentlich unverdächtige gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung, die das beachtenswerte WSI-Tarifarchiv betreibt, hatte bereits nach der Einigung im Koalitionsausschuss am 13. Januar eine Übersicht zusammengestellt. Zählt man alle Branchen zusammen, in denen Mindestlöhne per Entsendegesetz schon gelten bzw. jetzt auf den Weg gebracht wurden, kommt man selbst bei Einbeziehung des derzeit nach einem Urteil auf Eis liegenden Postmindestlohns nur auf eine Zahl von etwa 2,63 Millionen begünstigten Beschäftigten.

Unterschiedliche Zählweisen

Die Differenz erklärt sich unter anderem daraus, dass die Sozialdemokraten die nach WSI-Angaben rund 630.000 zählenden Zeitarbeiter in ihre Erfolgsliste aufgenommen haben, obgleich hier eine abschließende Festlegung noch aussteht - und eher zu befürchten steht, dass der Dumpinglohn der Christlichen Gewerkschaften als Untergrenze eingezogen wird. Mit der Verleih-Branche stünden den Zahlen der WSI-Experten zufolge insgesamt 3,25 Millionen Menschen unter dem Schutzschirm eines Mindestlohns. Auch in der Pflegebranche gibt es eine Besonderheit: Da rund die Hälfte der etwa 565.000 Beschäftigten bei kirchlichen Organisationen arbeiten, die eine arbeitsrechtliche Sonderstellung genießen, müsste über die Höhe des hier geltenden Mindestlohns erst eine neue Kommission entscheiden. Darf man sie trotzdem schon dazu zählen?

Apropos Mindestlohn. Wenn Arbeitsminister Scholz nun der Meinung ist, die eingezogenen Lohngrenzen könnten bei den begünstigten Beschäftigten dafür sorgen, „dass sie von ihrer ordentlichen Arbeit auch leben können und dass sie mit dem Gefühl nach Hause gehen, ihre Leistung und ihr Einsatz wird geschätzt“, ist ihm ein Probemonat als Wachmann oder Gebäudereiniger empfohlen. Gerade einmal sechs Euro und ein bisschen erhalten hier die untersten Lohngruppen. Das liegt noch deutlich unter dem von den Gewerkschaften geforderten Mindestlohn von 7,50 Euro. Der Chef der ebenfalls von miserabler Bezahlung ihrer Mitglieder gebeutelten Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten, Franz-Josef Möllenberg, sprach deshalb schon nach der Koalitionseinigung von „einem Trippelschritt“, der das Problem der Armutslöhne nicht löse. Dieses Urteil hat nun auch Michael Sommer, der DGB-Vorsitzende, übernommen.


Auf dem derzeit eingeschlagenen Weg würde man wohl selbst mit diesen Trippelschritten nicht zum Ziel kommen, Niedriglöhne wirksam zu verhindern. Nicht nur, weil es Friseuren wenig nützt, wenn ein unterster Tariflohn von gerade einmal drei Euro quasi Gesetzeskraft erhielte. Auch, weil eine Regelung her müsste, die die wachsende Zahl von Menschen erfasst, die längst jenseits des klassischen Angestelltenverhältnisses leben, als Honorarkräfte, Projektemacher, digitale Bohème. Jene Zigtausende Honorar-Lehrkräfte in der beruflichen Weiterbildungsbranche etwa, die vom nun vereinbarten Mindestlohn für die gerade einmal 23.000 fest beschäftigten und tariflich gebunden Mitarbeiter nicht profitieren werden.

Flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn als Alternative, der Schritt zu europäischen Normalität also? Dazu hat gestern im Bundestag der Linksfraktionsvorsitzende Gregor Gysi das Nötige gesagt: Es gebe dafür eigentlich „im Bundestag eine Mehrheit. Sie besteht aus SPD, Linken und Grünen. Aber die Mehrheit kommt nicht zustande, aus welchen Gründen auch immer.“ Im Herbst wird das Parlament neu gewählt. Umfragen zufolge hat Schwarz-Gelb gute Chancen - das wäre eine Mehrheit gegen jeglichen Mindestlohn.

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