Schmerzgrenzgang

SPD Andrea Ypsilanti schreibt ein neues Drehbuch für die gebeutelte Sozialdemokratie
Ausgabe 02/2018

Es war vor ein paar Tagen, Andrea Ypsilanti diskutierte in einer Gesprächsrunde über die Zukunft der Sozialdemokratie und darüber, welche Rolle die SPD noch dabei spielen könnte. Irgendwann hielt ihr einer der Diskutanten vor, mit ihrem Buch unter den Möglichkeiten geblieben zu sein. Und morgen regieren wir uns selbst habe ihn enttäuscht.

Worauf, fragte Ypsilanti zurück, die Kritik hinauswolle? Antwort: Sie habe keine konkreten Vorschläge aufgeschrieben, wie man es denn nun auch ganz praktisch besser machen könnte.

Nach einer langen politischen Karriere, zumal in der SPD, ist Andrea Ypsilanti nicht so leicht zu überraschen. Der Tadel, erzählt die gebürtige Rüsselsheimerin, habe sie jedoch „richtig perplex“ gemacht. Nicht so sehr aufgrund der Tatsache, dass sich in dem Buch ein ganzer Abschnitt der „Notwendigkeit einer radikalen Reformpolitik und einer grundlegenden Transformation“ widmet. Mit Vorschlägen für eine andere Zukunft.

Irritiert, vielleicht auch enttäuscht hat Ypsilanti etwas anderes an der Kritik: Es kommt darin ein unbedingtes Verlangen nach Antworten zum Ausdruck – bevor überhaupt die richtigen Fragen gestellt wurden. Eine Art von geistiger Selbstfesselung zur Machbarkeit unter den gegebenen Bedingungen. Politik als Prozess der Effizienz. Muss klappen. Finanzierbar sein. Was dem nicht entspricht, darf nicht als tauglicher Vorschlag gelten, die Welt zu verändern.

Oder als einer, der wenigstens diese Möglichkeit in sich trägt. Man ist ja bescheiden geworden als Sozialdemokrat. Andrea Ypsilanti hat trotzdem ein optimistisches Buch geschrieben. „Es will Mut machen, die bestehenden Verhältnisse nicht einfach hinzunehmen“, heißt es gleich zu Beginn.

Doch erst einmal muss die SPD-Frau die Geschichte einer Niederlage erzählen. Es ist eine Geschichte davon, „warum emanzipatorische Kämpfe in den letzten Jahrzehnten in die Defensive geraten sind“. Und natürlich erzählt sie auch vom Abstieg der Sozialdemokratie, der 1998 mit einem wahlpolitischen Aufstieg der SPD begann, die sich dann in der regierungsamtlichen „Neuen Mitte“ einmal um die eigene Achse drehte und als Agenda-SPD einen Weg einschlug, der zur Sackgasse wurde. Sozialpolitisch gilt das für Abertausende. Es gilt parteipolitisch auch für die SPD selbst.

Hoffnung und Herablassung

In einem ganz persönlichen Sinne hat dies auch Andrea Ypsilanti erfahren. Hessen 2008, die gescheiterte Bildung einer Minderheitsregierung von SPD und Grünen unter Tolerierung durch die Linkspartei. Die Ablehnung, auch die Herablassung, die ihr entgegenschlug. Ein kalter Putsch nicht nur gegen Ypsilanti selbst, sondern gegen ihr politisches Projekt „Soziale Moderne“.

Wer der Frau vorhalten möchte, keine konkreten Vorschläge zu machen, kann die Papiere ja noch einmal nachlesen. Es ging um soziale und ökologische Gerechtigkeit, um Bildung für alle. Um ziemlich praktische Dinge der Landespolitik also, von denen Ypsilanti damals allerdings sagte, es dürfe dabei nicht mehr um Reformen gehen, die den Menschen Angst machten. Sondern Hoffnung.

Ihr damaliger Kurs fand Bestätigung in Umfragen, im Wahlergebnis. Auch an der Basis ihrer Partei. Über Hessen hinaus. Sie scheiterte dennoch.

Wer Andrea Ypsilanti fragt, ob sie nicht bei all dem, was die SPD seither getan hat, was sie heute ausmacht, einmal darüber nachgedacht habe, aus der Partei auszutreten, der erntet eine Denkpause. Natürlich, es hat diese Momente gegeben. Aber was wäre dann? „Es wird keine grundlegende Veränderung in dieser Gesellschaft geben, ohne dass die SPD mitzieht“, glaubt Ypsilanti. Einerseits. Aber andererseits brauche es dazu eben auch eine andere Sozialdemokratie.

Während man noch dem Gespräch mit Ypsilanti hinterhersinnt, kommen die Nachrichten. Es geht um die Sondierungen für eine neue Große Koalition, die in Wahrheit eine kleine ist mit dieser Schrumpfvariante der SPD. Es geht darum, ob Sigmar Gabriel sich zu oft zu Wort meldet und so den eigentlichen Parteichef Martin Schulz überspielt. Um das, was Andrea Nahles vielleicht irgendwann einmal anstrebt. Die übliche Politgymnastik.

„Wenn die SPD es nicht schafft, sich programmatisch und personell zu erneuern, dann sehe ich schwarz für die Partei“, sagt Ypsilanti. Ob sie Angst vor einem Pasok-artigen Absturz hat? „Das kann man nicht mehr ausschließen.“ Die griechische Sozialdemokratie ist pulverisiert. Die französische Parti Socialiste musste ihre Zentrale verkaufen. Noch hat die SPD 20 Prozent. Wie lange noch?

Natürlich gehört Ypsilanti zu denen, die vor einem Gang in die Große Koalition warnen. „Wir werden keine neue Perspektive finden, wenn wir zugleich mit der Union praktische Politik machen, die in die andere Richtung geht.“ Und dann umreißt sie die Weite des Horizonts, in dem sie diese Umkehr denken möchte: „Die SPD muss aufhören, sich nur als Reparaturbetrieb des Kapitalismus zu verstehen.“

Ihr Buch, zu dem der zu früh verstorbene Freund und Sozialdemokrat Hermann Scheer immer gedrängt hatte, bleibt skeptisch gegenüber neuen, „großen Erzählungen“. Ypsilanti spricht lieber von einem „neuen Drehbuch“. Es „müsste vielleicht bescheidener und gleichzeitig mutig daherkommen“. Und sie hat dafür einen Soundtrack gefunden, eine Melodie: bei Albert Camus’ Der Mensch in der Revolte. In seinem „mittelmeerischen Denken“ sieht Ypsilanti eine mögliche Quelle. Es geht darin um „emanzipatorische Sinnlichkeit und einen versöhnlichen Umgang mit der Natur, der sich nicht absolutistisch erhebt und den Weltgeist schon in der Tasche hat“.

Camus ist seinerzeit, die Essaysammlung erschien Anfang der 1950er Jahre, auch kritisiert worden. Als idealistisch. Oder als sozialdemokratisch. Geht beides? „Wenn wir Camus’ Denken weiter folgen“, schreibt Ypsilanti über die Notwendigkeit einer neuen Utopie, dann werde diese „schlicht auf der Seite der Gerechtigkeit und der unveräußerlichen Rechte des Individuums“ stehen. Und diese Utopie müsste mutig genug sein, „einen erneuerten Begriff des Sozialismus“ für sich zu beanspruchen.

„Natürlich wird das zu einem Aufschrei der neoliberalen und konservativen Kräfte führen“, glaubt Ypsilanti. „Die Alternative, es nicht zu wagen, erscheint jedoch noch weniger attraktiv.“

Unlängst hat Bernd Ulrich von der Zeit Martin Schulz mit einem einfachen Gedanken konfrontiert. „Eine linke Politik in einem Wahlkampf“ sei „erst spürbar, wenn irgendjemand von der Gegenseite schreit – die Union, die FDP, die Unternehmerverbände, wer auch immer.“ Und dann sagt Ulrich mit Blick auf den Herbst 2017: „Doch niemand hat geschrien.“

Schulz hat dann schnell reagiert, Politprofi eben. Ein paar Fragen weiter antwortete er: „Wir müssen wieder den Mut zur Kapitalismuskritik fassen.“ Und natürlich kam auch das Schlagwort „Erneuerung“. Irgendwie reden in der SPD ja jetzt ohnehin alle davon.

Vielleicht ist das überhaupt der Normalzustand dieser Partei, einer Kraft, die zwar ihre programmatischen Sehnsüchte über die herrschenden Verhältnisse hinaus richtet, aber zugleich beansprucht, im Hier und Heute die Dinge in die richtige Richtung zu bewegen, in kleinen Schritten, maßvoll. Damit die Leute besser leben. Eine Partei, die dabei auf Widersprüche stößt, Fehler macht, sich von diesen im medial-politischen Raum so schwer lösen kann. Die aber immerzu von Erneuerung redet. Die darüber reden muss, weil sonst die Schmerzen zu groß werden, die man sich selbst dadurch zufügt, dass man in einer Wirklichkeit agiert, die Träume nur langsam wahr werden lässt.

„Die SPD droht – vielleicht auf lange Zeit – die Regierungsfähigkeit zu verlieren, weil sie allzu viele Prinzipien über Bord geworfen hat, weil sie allzu bereitwillig dem Druck privilegierter Interessengruppen nachgab, weil sie sich immer mehr von der Interessenlage und den Wertgesichtspunkten der eigenen Basis entfernt und den Kontakt zu wichtigen gesellschaftlichen Bewegungen verliert.“

Gesagt hat das nicht Ypsilanti, sondern Johano Strasser sozialdemokratischer Querdenker früherer Zeiten. Im Jahr 1981. Es könnte aber auch von ihr sein. Die Rolle der Basis, auch die Hoffnung, die man in sie setzt. In die Zivilgesellschaft. Darin, dass etwas nicht in Parteizirkeln entschieden wird, sondern dadurch, dass Leute es um ihrer eigenen Lebensverhältnisse selbst machen. „Woher also kommen der Aufbruch, das Aufbegehren, die mit den Ritualen und Routinen der Apparate brechen und das Andere wieder denkbar machen?“

Was, wenn das nicht gelingt? Fragen. An eine Partei. Auch an sich selbst. Ja, sagt Ypsilanti, natürlich gebe es für sie eine „Schmerzgrenze“. Sie spricht sogar von einem „letzten Versuch“. Anfang 2019 wird sie aus dem Hessischen Landtag ausscheiden. Sie hat dann wieder mehr Zeit für anderes. Für das Institut Solidarische Moderne, von dem sie sagt, es laufe besser als die fehlenden Schlagzeilen glauben machen. Für den politischen Nahraum, in dem sie sich bewegt und diskutiert. Für sich selbst.

„Ich will nicht aufgeben“, sagt Andrea Ypsilanti. Sie wird nicht können. Trotz der Zweifel, der Fragen. Oder besser gesagt: deswegen.

Info

Und morgen regieren wir uns selbst. Eine Streitschrift Andrea Ypsilanti Westend Verlag 2018, 256 Seiten, 18 €, erscheint am 12. Januar

Tom Strohschneider war bis 2012 Freitag-Redakteur und bis Ende 2017 Chefredakteur des Neuen Deutschland

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