Erwerbslosigkeit ist auch eine Frage, auf welche Daten man schaut. Die offizielle Statistik verschweigt nichts, doch in der Öffentlichkeit wird trotzdem oft ein falsches Bild erzeugt. Das liegt vor allem an der Politik, der niedrige Zahlen als Beleg eigenen Erfolgs dienen. „Der deutsche Arbeitsmarkt ist in hervorragender Verfassung“, lobte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) dieser Tage die Lage und damit sich selbst. Auf eine „Arbeitslosigkeit von unter fünf Prozent“ könne „Deutschland stolz sein“.
Entsprechend sehen die Schlagzeilen aus, welche die monatliche Bekanntgabe der offiziellen Arbeitslosenzahl begleiten. Im Oktober waren das für die Nürnberger Bundesagentur 2.204.000 Menschen, die Quote wurde mit 4,9 Prozent beziffert.
Doch was wird hier gezählt? „Die Definition von Arbeitslosigkeit ist eine sozialrechtliche und daher politisch steuerbar“, merkte der Sozialexperte Stefan Sell schon vor Jahren an. Die Folge sei eine Arbeitslosenstatistik, die das tatsächliche Ausmaß „nur unvollständig abbildet“.
Mehr als 15-mal wurde in den vergangenen Jahrzehnten die Methode zur Erfassung verändert, „fast jedes Mal ist die Arbeitslosenzahl danach gesunken“, so kann man es in einem der vielen Beiträge über die Lücken der Statistik lesen.
Der Bundesagentur lässt sich da freilich nicht viel vorwerfen. Wer es schafft, in deren Mitteilungen bis zum dritten Absatz zu kommen, erfährt: „Insgesamt lag die Unterbeschäftigung im Oktober 2018 bei 3.142.000 Personen.“ Hierzu zählen Erwerbslose, die älter als 58 Jahre sind, Ein-Euro-Jobber, Personen in Förderprogrammen und Bildungsmaßnahmen – insgesamt über 915.000 Menschen.
Doch auch die von der Bundesagentur angegebene „Unterbeschäftigung“ zeichnet noch nicht das ganze Bild. Diese Daten wiesen „nur einen Teil“ aus, erläuterten schon vor Jahren die hauseigenen Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung: Man müsse „die sogenannte ,verdeckte Arbeitslosigkeit‘ bzw. die ,Stille Reserve‘ in die Betrachtung einbeziehen“.
Hierzu zählen Menschen, die sich gar nicht erst bei den Behörden erwerbslos melden, entweder weil sie schon einen neuen Job in Aussicht oder die Hoffnung auf Anstellung längst aufgegeben haben. Hinzu kommen jene, die im Moment nicht aktiv nach einer Arbeitsstelle suchen, dies aber bei „guter Arbeitsmarktlage mit passenden individuellen Rahmenbedingungen“ doch wieder tun könnten.
Für 2018 schätzen die Nürnberger Forscher, dass sich die „Stille Reserve“ auf im Schnitt 870.000 Menschen reduzieren wird. Es bleiben aber eben auch diese 870.000 „unterbeschäftigt“. Einfach so zu den anderen Zahlen addieren lässt sich das nicht, es gibt statistische Abgrenzungsprobleme. Man kann aber daran sehen, dass das Ausmaß der Erwerbslosigkeit größer ist, als es in den politischen Schaufensterreden heißt.
Eine Fokussierung auf die offizielle Zahl der Erwerbslosen bringt noch etwas zum Verschwinden: persönliche Betroffenheit. Wie viele Menschen die Erfahrung machen, ihren Job und also Lebenssicherheit zu verlieren, steht im ausführlichen Monatsbericht der Bundesagentur: Allein in diesem Oktober haben sich „583.000 Menschen bei einer Arbeitsagentur oder einem Jobcenter arbeitslos“ gemeldet, „während gleichzeitig 635.000 Personen ihre Arbeitslosigkeit beendeten“.
Über einen Zeitraum von zurückgerechnet zwölf Monaten betrachtet, haben sich sogar über 2,4 Millionen Menschen arbeitslos gemeldet. Das zeigt: Auch in Zeiten der von der Politik gefeierten „guten Konjunktur“ machen Betriebe dicht, werden Menschen entlassen. Dass die wirtschaftliche Lage derzeit den Bedarf an Erwerbspersonen erhöht, führt zwar dazu, dass viele recht schnell wieder einen Job bekommen. Für viele ist das aber von der Sorge begleitet, den Sprung zurück nicht zu schaffen.
Dumpinglohn dank Papa Staat
Neben der „Sucharbeitslosigkeit“, die entsteht, weil es einige Zeit dauert, bis Stellenangebote gefunden und Bewerbungen geschrieben sind, gibt es nämlich die strukturelle Arbeitslosigkeit – und die dauert meist lange. Weil offene Stellen und Bewerber aus Gründen der Qualifikation nicht zueinanderpassen. Weil Menschen aufgrund von Einschränkungen oder weil sie als zu alt gelten keine Arbeit finden. Weil die Jobs zwar da sind, aber eben nicht dort, wo die Erwerbslosen wohnen.
Im Oktober waren fast 1,2 Millionen Menschen länger als sechs Monate erwerbslos, 776.000 sogar länger als ein Jahr. Zwar schrumpft auch die Zahl der Langzeiterwerbslosen seit einiger Zeit. Aber gerade hier sind die Probleme auch besonders dauerhaft. Zumal es dabei um Anforderungen eines kapitalistischen Erwerbsmarktes geht, nicht um persönliche Ziele, eigene Talente oder Interessen. Es gibt viele Menschen ohne Berufsausbildung oder mit Abschlüssen, die als zu gering angesehen werden. Ein Beispiel: Im Oktober strebten rund eine Million Erwerbslose eine Arbeit als Helfer an – in diesem Bereich waren aber nur etwa 160.000 Stellen frei. Dagegen wurden Fachkräfte deutlich stärker nachgefragt.
Zur Wirklichkeit auf dem Arbeitsmarkt gehört zudem, dass Menschen zwar eine Stelle haben, aber mit staatlichen Leistungen „aufstocken“ müssen, weil das Geld nicht zum Leben reicht. Unter den knapp 4,26 Millionen erwerbsfähigen Hartz-IV-Empfängern ging zuletzt rund ein Viertel einer Lohnarbeit nach. Trotz „guter Arbeitsmarktentwicklung“ und trotz Mindestlohns reicht das Einkommen für über 130.000 Vollzeitbeschäftigte nicht zum Leben. Hier werden Geschäftsmodelle mit Dumpinglöhnen öffentlich subventioniert, beklagen Kritiker seit Langem. Das gilt auch für viele Minijobber und Teilzeitbeschäftigte. Insgesamt arbeiten derzeit über elf Millionen Menschen befristet, geringfügig, in Zeitarbeit oder in Teilzeit.
Gibt es so etwas wie Arbeitslosigkeit in der Lohnarbeit? Anders gefragt: Würden diese Menschen gern mehr arbeiten? 2017 zählte das Statistische Bundesamt rund 2,4 Millionen Erwerbstätige, die eine Erhöhung ihrer Arbeitszeit wünschten – im Durchschnitt ging es um Mehrarbeit von 10,9 Stunden. Die Rolle, die der zusätzliche Verdienst dabei spielt, dürfte nicht gerade klein sein.
Apropos Bundesstatistiker: Diese ermitteln die Arbeitslosigkeit nach dem sogenannten ILO-Erwerbskonzept. Sie belief sich danach im September auf 1,43 Millionen Erwerbslose, die Quote sank auf 3,3 Prozent. Diese Zahl liegt noch einmal niedriger als die der Bundesagentur, hat aber sogar Vorteile – nämlich, von Beeinflussung durch nationale Sozialgesetzgebung unabhängig zu sein und besser internationale Vergleiche zu erlauben.
Ein Bild vom wirklichen Ausmaß der Erwerbslosigkeit zeigt sie nicht. Kann es das überhaupt geben? Zweifel sind erlaubt. Vieles hängt von Definition und politischer Perspektive ab. Und: Wer sich nirgendwo meldet und nichts beantragt, bleibt in der Statistik meist unsichtbar.
Studien gehen davon aus, dass bis zu 50 Prozent der Menschen, die eigentlich Hartz-IV-Leistungen beziehen könnten, auf ihren Anspruch verzichten. Ein Teil davon ist ohne Lohnarbeit. Ob diese Menschen auch als erwerbslos gezählt werden, ist eine Frage, auf welche Daten man schaut.
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