Die Dinge, wusste einst Marx, würden sich stets doppelt ereignen: das eine Mal als Tragöde, das andere Mal als Farce. Der Satz aus dem Achtzehnten Brumaire war zwar auf weltgeschichtliche Tatsachen gemünzt, doch auch der Blick nach Hessen bestätigt ihn.
Vor einem Jahr fanden dort Landtagswahlen statt. Was dann passierte, ist hinlänglich bekannt: handwerkliche Fehler, öffentlicher Druck und ein Putsch aus Gewissensgründen verhinderten nach langer Hängepartie eine von der Linkspartei tolerierte rot-grüne Landesregierung. Die sozialdemokratische Hauptfigur wurde zur tragischen Heldin und ist inzwischen nur noch Landesvorsitzende auf Abruf.
Der neuerliche Anlauf, das Parlament in Wiesbaden zu besetzen, wird auf SPD-Seite von Thorsten Schäfer-Gümbel angeführt. Erst wurde so lange Verwerfliches über die Sozialdemokratie verbreitet, bis die Partei keine Chance mehr hatte - um dann aus eben dieser Chancenlosigkeit der SPD die Tugend ihres Spitzenkandidaten zu machen. Je hoffnungsloser es für Schäfer-Gümbel aussah, umso mehr Anerkennung fand seine Kandidatur. Und so wurde der Mann zu einem Eddie the Eagle der Politik und wie schon seinerzeit beim britischen Skispringer Michael Edwards rückte bald schon die Frage der Sehhilfe in den Mittelpunkt: "Hessens SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel schwankt, ob er seine viel diskutierte Brille mit den kleinen Gläsern austauscht", meldete eine seriöse Nachrichtenagentur wie die DPA, der Politiker sei "am Donnerstagabend mit einem neuen, etwas größeren Modell" aufgetreten, "wechselte am Freitag aber zum alten Gestell zurück".
Gruppenbild ohne Dame
Dass es bei Wahlen um einen Vorgriff auf zukünftige Politik geht, geriet bei alldem fast schon zur Nebensache. CDU und FDP konnten sich angesichts satter Umfragemehrheiten immer sicherer sein. Und bei der Sozialdemokratie erlebte man statt Ziel-Wahlkampf nur einen matten Verhinderungs-Wettbewerb: "Wirklich wieder Koch?", fragt die SPD auf ihren Plakaten und findet keine Antwort darauf, dass sich der CDU-Ministerpräsident auf eine Weise präsentiert, die zum Feindbild nicht mehr recht taugt. Als sich in der vergangenen Woche die Spitzenkandidaten zum Gruppenbild ohne Dame versammelten, kam eine Kontroverse kaum in Gang. Und das in Hessen, wo im Parteienwettstreit sonst die großen Kaliber in Stellung gebracht wurden. Fast enttäuscht erklärte sich die Frankfurter Allgemeine den pfleglichen Umgang mit der "Milde der vom Wahlkampf Ermatteten".
Angesichts dessen erschien der mahnende Aufruf einer gewerkschaftsnahen Initiative, bloß nicht die Linkspartei zu wählen, fast schon überzogen aufgeregt. Von "Umverteilungsphantasien der SED-Nachfolgepartei" ist da die Rede und davon, jeder "demokratischen Partei" die Stimme zu geben - nur nicht der Linken und ihrer "arbeitsplatzfeindlichen Politik". Die Tatsache, dass auch ein Landtagskandidat und ein Bundestagsabgeordneter der Koch-Partei zu den Unterzeichnern gehören, ließ manche von einer "CDU-nahen Hilfstruppe" sprechen. Auch wurde daran erinnert, dass die eher konservative IG BCE, aus der viele Unterzeichner stammen, die Linkspartei als Bündnispartner weitgehend ablehnt.
Darüber hinaus verweist der Aufruf auf ein sozialdemokratisches Milieu-Problem: die konkurrierenden Interessen verschiedener Arbeitnehmergruppen. Die angesprochene Gewerkschafter-Initiative versammelt nicht zufällig Betriebsräte aus dem Chemiebereich und dem Verkehrssektor. Ähnliche Argumente, die jetzt gegen die Wahl der Linkspartei angeführt werden, wurden aus traditionellem SPD-Milieu ja auch schon gegen die rot-grünen Ypsilanti-Pläne ins Feld geführt. Deren Programm war deutlich auf eine Förderung des öffentlichen Sektors sowie der Bildungs- und Kulturberufe ausgerichtet. Auf der anderen Seite stand der bereits fertige Koalitionsvertrag von SPD und Grünen für eine zaghafte ökologische Wende, verkörpert durch den Solar-Protagonisten Hermann Scheer, der als Wirtschaftsminister amtieren sollte.
Doch schon vor der gescheiterten Wahl Ypsilantis zur Ministerpräsidentin hatte der IG-BCE-Landesbezirk Hessen-Thüringen die SPD zur Bildung einer großen Koalition aufgefordert, eine Kooperation mit der Linkspartei schade der Wirtschaft des Landes, auch weite Teile der Grünen würden "eine zukunftsorientierte Industrie- und Infrastrukturpolitik" torpedieren. Gerade das Gegenteil wäre der Fall gewesen, was aus der Sicht von "alten Industrien" jedoch anders erscheinen musste. Die SPD sollte ihre Blockadehaltung gegen neue Kohlekraftwerke aufgeben. Bei Verdi lehnte man die Flughafenpolitik der SPD mit dem Argument ab, das angestrebte Nachtflugverbot würde zahlreiche Neueinstellungen am Frankfurter Airport verhindern.
Sieg der Interessen
Diesen Kampf nun noch einmal aufzunehmen, ist eigentlich überflüssig. Er ist bereits gewonnen. Die Architekten des kritisierten rot-grünen Modells sind heute längst in der Defensive: Ypsilantis Abschied von Landes- und Fraktionsvorsitz wird für die Zeit nach der Wahl erwartet, Landesgeneralsekretär Norbert Schmitt hat seinen Rückzug angekündigt, Hermann Scheer gab frühzeitig entnervt auf. Den SPD-Netzwerkern und der eher konservativen Vorwärts-Gruppe wird wachsender Einfluss vorhergesagt.
Es ist ein Sieg der Interessen, wohl aber keiner der Mehrheit in der hessischen Sozialdemokratie. Nach Meinung von Soziologen machen die konservativen Arbeitnehmermilieus einen kleineren Anteil aus als die modernen. Die Verhinderung des rot-grün-roten Bündnisversuchs war schon der Form nach ein Akt der Minderheit - vier Abgeordnete gegen den in Parteitagen ermittelten Willen der SPD.
Schaut man sich die Ergebnisse vom vergangenen Januar an, konnte Ypsilanti vor allem bei Wählern mit hohen Bildungsabschlüssen aus den Gesundheits-, Sozial- und Kulturberufen punkten, zudem fielen die Gewinne bei berufstätigen Beamten und in urbanen Milieus besonders hoch aus. Sie hatten nach Jahren der Kochschen Sparpolitik tatsächlich etwas zu gewinnen: mehr staatliche Ausgaben und die Rückkehr in die Tarifgemeinschaft der Länder.
Dass die politische Konstellation dann nicht zustande kam und wie das geschah, hat die Umfrageergebnisse der hessischen Sozialdemokraten vor der Wiederholungswahl auf historisch niedrige Werte sinken lassen. Was aber weder bloß die Folge eines "Wortbruches" ist, noch in erster Linie mit der Linkspartei zu tun hat, wie immer wieder behauptet wird. Sondern vor allem mit der Enttäuschung in den "modernen Arbeitnehmermilieus" über eine vertane Chance. Die hessische Niederlage des linken Flügels der Hessen-SPD ist auch ihre Niederlage.
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