Gefangene im Dilemma

Klimagipfel Nach Kopenhagen: Denkt jeder an sich, ist nicht an alle gedacht – warum Kooperation der einzige Weg aus der Klimakrise ist

Das Gefangenendilemma ist ein Experiment aus der Spieltheorie. Es illustriert, wie individuell rationale Nutzenkalküle zu kollektiv schlechteren Ergebnissen führen können. Der Klimagipfel in Kopenhagen lief nicht anders ab.

Im Versuch werden zwei Häftlinge eines Verbrechens beschuldigt, getrennt voneinander verhört und bekommen dies Angebot: Wenn einer gesteht und den anderen belastet, kommt er selbst ohne Strafe davon, der Komplize aber muss für fünf Jahre hinter Gitter. Wenn beide gestehen, wird das Urteil wegen mildernder Umstände für beide vier Jahre betragen. Wenn beide kooperieren und die Tat bestreiten, reichen die Indizienbeweise nur für zwei Jahre Gefängnis. Das Problem ist, dass die Häftlinge keine Möglichkeit haben, sich abzusprechen. Ohne zu wissen, was der andere tun wird, müssen sie entscheiden zwischen dem größten individuellen Vorteil (den Anderen beschuldigen) und dem höchsten Kollektivnutzen (hier: gemeinsam dem Druck des Verhörs widerstehen) – der sich aber eben nur einstellt, wenn der andere auch mitmacht und sich gegen seinen Egoismus entscheidet.

Man kann sich die Teilnehmer des UN-Klimagipfels als Gefangene in diesem Dilemma vorstellen. Die 193 versammelten Staaten haben sich für kurzfristigen Egoismus entschieden. Dabei ist das Weltklima grausamer als die Richter im Gefangenenexperiment.

Längst ist klar, dass es nicht nur für die Weltgemeinschaft, sondern wohl auch für die meisten Einzelstaaten langfristig billiger ist, schnell mit dem Klimaschutz zu beginnen, als am Ende für Stürme und Dürren, steigende Meeresspiegel und neue Krankheiten zahlen zu müssen.

Appelle und Veto-Drohungen

Die USA und China waren auf dem Klimagipfel die einzigen wirklich relevanten Spieler. Beide Länder sind zusammen für etwa 40 Prozent des weltweiten Kohlendioxid-Ausstoßes verantwortlich – China hat bei den absoluten Emissionen inzwischen alle anderen Staaten überholt, aber pro Kopf verursacht jeder US-Amerikaner immer noch mehr als vier Chinesen.

Peking gelang es während der zwölf Gipfeltage, den Großteil der Entwicklungsländer an seiner Seite zu halten und bindende Reduktionsverpflichtungen schlicht abzublocken. Auf der anderen Seite war Barack Obama die US-Innenpolitik wichtiger als der Kalender der Weltklimadiplomatie: Kopenhagen kam für ihn einfach zu früh. Er will erstmal die Gesundheitsreform durch den Kongress bringen. Und bei den Beratungen zu einem nationalen Klimagesetz im nächsten Halbjahr, so offenbar sein Kalkül, würde es gegen die oppositionellen Republikanern und die mächtige Öl- und Kohlelobby helfen, in Kopenhagen hartgeblieben zu sein.

Unter ferner liefen

Beobachter hatten erwartet, dass Obama zumindest Geld mitbringt, die – in den internationalen Waldschutz investiert – als Ersatz für CO2-Einsparungen hätten gewertet werden können. Doch die beiden (Klima-)Supermächte belauerten sich misstrauisch. Gut möglich, dass sie auch eine heimliche Allianz gegen den Rest der Welt geschlossen haben und lieber erst noch ein paar Jahre Reichtum anhäufen, ehe sie mit dem Klimaschutz anfangen. Im Bild des Gefangenendilemmas wirken sie wie zwei Häftlinge, die ihrem Komplizen misstrauen – oder aber hoffen, dass die Verhörspezialisten nur bluffen und die Strafen am Ende anders ausfallen.

Die anderen 191 Unterzeichnerstaaten der Klimarahmenkonvention, die in Kopenhagen mit an den Verhandlungstischen saßen, rangierten eigentlich unter „ferner liefen“. Unter der Führung von Tuvalu versuchte die Allianz der kleinen Inselstaaten, denen buchstäblich der Untergang droht, mit einer Mischung aus Appellen und Veto-Androhungen, einen ernsthaften Klimaschutz durchzudrücken – doch sie waren letztlich zu schwach. Mit einer Blockade der Verhandlungen machte Afrika erst Druck, versuchte dann aber in der zweiten Gipfelwoche mit einem Kompromissangebot Bewegung in die Verhandlungen zu bringen. Die Ärmsten der Armen schraubten ihre Unterstützungsforderungen an die Industriestaaten um viele Milliarden Euro zurück – vergeblich.

Wenn es einen Helden von Kopenhagen gibt, dann den brasilianischen Präsidenten Lula: Als sich kurz vor Schluss immer noch nichts bewegte, bot das Schwellenland Brasilien sogar an, selbst etwas einzuzahlen in die internationalen Fonds für arme Länder. Erfolglos. Er habe sich gefühlt, so Lula hinterher frustriert, wie einst als Gewerkschaftschef bei Verhandlungen mit Wirtschaftsbossen.

Die Europäische Union hat, auch das zeigte sich in Kopenhagen, ihre Führungsrolle in der Umweltpolitik längst abgegeben. Am Ende des Verhandlungspokers war die EU nicht mehr im Spiel (siehe Interview). Da machten die USA und China das Gefangenendilemma unter sich aus.

Wie Du mir, so ich Dir

Heerscharen von Wissenschaftlern haben in den vergangenen Jahrzehnten nach einer allgemein verbindlichen Empfehlung für das Häftlingsexperiment gesucht. Robert Axelrod, Politologe an der University of Michigan, ließ 1979 mit Hilfe von Computern verschiedene Handlungsstrategien testen. Er lud zu einem Wettstreit ein, vierzehn Informatiker beteiligten sich. Sie schickten zum Teil hochkomplizierte Konstrukte ins Rennen, die versuchten, die anderen Spieler geschickt auszunutzen.

Gewonnen hat dann ausgerechnet das kürzeste Programm mit der simpelsten Strategie: Es verhielt sich in der ersten Spielrunde kooperativ und tat in jeder folgenden genau das, was das Gegenüber in der vorherigen Runde gemacht hatte. „Tit for tat“, nannte der Programmierer dies Prinzip: „Wie Du mir, so ich Dir“ – aber eben mit positivem Beginn, nämlich dem gutmütigen Anfangsangebot zur Zusammenarbeit. Doch weder China noch die USA waren in Kopenhagen dazu bereit.

„Nicht nett zu sein, mag auf den ersten Blick erfolgversprechend sein“, fasste Axelrod seine Arbeiten zusammen, „auf Dauer aber kann es genau die Umgebung zerstören, die für den eigenen Erfolg unentbehrlich ist.“

Für die Berichterstattung vom Klimagipfel in Kopenhagen kooperiert freitag.de mit www.wir-klimaretter.de


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