Die Reformuni« lautete die Überschrift zu einem Artikel in der Zeit vom 20. Februar, in dem der Leiter des Bertelsmann-Centrums für Hochschulentwicklung (CHE), Detlef Müller-Böling, den Stand der derzeitigen Hochschulreform in Deutschland darlegte. Als Chef der Agentur, die die Hochschulreformvorschläge maßgeblich ausarbeitete, zog er eine aus seiner Sicht optimistische Bilanz: die »Entpolitisierung« der Hochschulen sei kaum aufzuhalten. Das war nicht kritisch, sondern als Erfolgsmeldung gemeint: Staat und Politik zögen sich zunehmend aus der Planungsverantwortung zurück, der Einfluss interessenpolitisch zugeschnittener Selbstverwaltungsgremien würde beseitigt, an deren Stelle entwickelten sich professionelle Managementstrukturen, handlungsleitend würden immer mehr Erfolgskriterien des Wettbewerbs auf einem Markt für Qualifikations- und Forschungsdienstleistungen.
In diesem Kontext steht auch eine Meldung, die es bis in die Hauptnachrichten schaffte, aber öffentlich so gut wie nicht diskutiert wurde: Anfang März verständigte sich die Kultusministerkonferenz (KMK) darüber, dass sich die Hochschulen künftig mindestens 50 Prozent der Studienplatzbewerber nach eigenen Bemessungskriterien selbst aussuchen dürfen. Innerhalb dieser 50-Prozent-Regelung sind verschiedene technokratische Verfahren vorgeschlagen, aber der Grundgedanke ist immer derselbe: Die Zulassung zum Studium wird selbst zum Bestandteil des Wettbewerbs, die spezifischen und variablen Zulassungskriterien der jeweils einzelnen Hochschule sollen offenbar deren Marktprofil mit steuern. Niemand scheint sich bisher sonderlich darüber aufzuregen, dass damit die individuellen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Entscheidungsspielräume der Abiturienten - jedes Dritten eines Jahrgangs - drastisch beschnitten werden.
Zwar ist durch Überlast und Numerus-Clausus-Regelungen (NC) der »freie« Hochschulzugang schon lange eingeschränkt. Doch bei der aktuell geplanten »Selbstauswahl« der Hochschulen geht es nicht lediglich um Veränderung eines bestehenden Auswahlverfahrens - hier wird ein kompletter Systemwechsel in der Zuteilung von Bildungsberechtigungen vollzogen. In Form einzelner Modellversuche wird schon lange an dieser Schraube gedreht. Bei den Heidelberger Juristen werden Studienplätze über eigens entwickelte »Intelligenztests« vergeben, deren Ergebnisse geheim bleiben. Andernorts führen Professoren sogenannte »Eignungsgespräche« durch, nach denen sie den Daumen heben oder senken. 1998 wurde eine Quote für NC-Fächer bestimmt, wonach sich Hochschulen ein Viertel der Studienplatzbewerber nach eigenen Kriterien selbst auswählen durften. Doch davon wurde kaum Gebrauch gemacht. Sicher kein Zufall, da sich mit diesem Anteil ein eigenes »Hochschul-Profil« kaum ausbilden lässt und der immense Verwaltungsaufwand in keinem Verhältnis zum Resultat steht. Der jetzige KMK-Beschluss soll offenbar den Durchbruch bringen, wobei die 50-Prozent-Quote nur die Mittellinie des Kompromisses darstellt. In Niedersachsen (noch unter der letzten SPD-Regierung) und Baden-Württemberg sind Gesetzesentwürfe auf den Weg gebracht, die eine Steigerung der Selbstauswahl-Quote auf 90 Prozent zulassen.
Die daraus resultierenden Maßnahmen laufen in letzter Konsequenz auf eine von ökonomischen Interessen geleitete Zuteilung von Studienplätzen hinaus. Im Wettbewerb werden Hochschulen versuchen, sich durch Spezialisierung Profile zuzulegen, nach denen sie die Auswahl ihrer Studierenden treffen. Vor allem jedoch entsteht eine vertikale Selektion: Eine immer größere Kluft wird sich auftun zwischen neuartigen Elite-Universitäten, die etwa das vom CHE verliehene »best-practice«-Gütesiegel tragen, und notstandsverwalteten Massenhochschulen für den Rest, welche von der Dortmunder Zentralvergabestelle für Studienplätze (ZVS) nach »sozialen Kriterien« beschickt werden.
Wer sich bildungspolitisch am Leitmodell der CHE-»Reformuni« orientiert, stimmt den Maßnahmen der Selektion voll zu. Die »Selbstauswahl« der Universitäten ist der Idee einer Hochschule als Dienstleistungsunternehmen geschuldet, die auf dem Markt ein spezifisches »Profil« in Konkurrenz mit anderen Hochschulen entwickelt. Dieses Szenario ist unvereinbar mit einem Rechtsanspruch auf Bildung - selbst in seiner technokratischen Variante der »allgemeinen Hochschulreife« - oder mit einem sozialbürokratischen Zuteilungssystem à la ZVS.
Man könnte daher den historischen Entwicklungsstand der Hochschulreform in Deutschland folgendermaßen umschreiben: Das »Bürgerrecht auf Bildung« (Ralf Dahrendorf) der sechziger Jahre wird abgelöst durch den individuellen Nachweiszwang persönlicher »Eignung«, und zwar für einen externen Zweck, der durch die Stellung der jeweils einzelnen Hochschule auf dem Bildungs- und Wissenschaftsmarkt bestimmt ist. Was der einzelne Bewerber intellektuell zu leisten imstande ist, ist dabei völlig gleichgültig, da seine Leistungsfähigkeit nur im Hinblick auf diese spezifische Marktsituation, die das »Profil« der Hochschule ausmacht, selektiv bewertet wird.
Im Zentrum einer populistischen Kritik am traditionellen Hochschulzugang steht folgerichtig die Dortmunder ZVS mit ihrem Ruf als meistgehasste Bildungsbehörde (»Platzanweiserin der Nation«). Dabei werden allerdings in der Regel zwei Dinge unterschlagen. Zum einen ist die ZVS ausschließlich für überbelegte Fächer mit bundesweiter Zulassungsbeschränkung zuständig (für andere gilt überwiegend die freie Studienplatzwahl). Zum anderen ist die ZVS nicht die Ursache einer bürokratischen Studienplatzvergabe, sondern lediglich eine Folge der Überlast beziehungsweise Unterfinanzierung der Hochschulen. Sie wurde 1973 in Folge eines Urteils des Bundesverfassungsgerichts gegründet, um an überlasteten Hochschulen das vom Gericht als vorrangig definierte Recht auf freien Hochschulzugang und die Wahl des eigenen Bildungswegs zu regulieren. Nichts charakterisiert derzeit die von CHE-Chef Müller-Böling festgestellte »Entpolitisierung« mehr als dieser Umstand: Die Geschäftsgrundlage bisheriger Bildungspolitik, das Recht auf freien Hochschulzugang, wird derzeit einfach abgeschafft, ohne dass sich öffentlich etwas regt.
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