Glaubt man der staatlichen Propaganda in Syrien, dann sind die Demonstrationen und Aufstände im Land ein Werk ausländischer Mächte, hinter denen immer auch Israel steckt. Das vertraute Bild des zionistischen Erbfeindes wird tapfer aufrechterhalten, selbst wenn es verschlungener Argumentation bedarf, um den großen Bogen von eingeschleusten Terroristen und Al-Qaida-Kämpfern zu israelischen Hintermännern zu schlagen. Für das Anti-Assad-Lager sind solche Anwürfe dennoch potenziell bedrohlich. Der anti-israelische Konsens ist in der syrischen Gesellschaft – wie in den meisten arabischen Staaten – stark ausgeprägt. Nicht ohne Grund: Syrien und Israel sind seit Jahrzehnten verlässliche Feinde.
Während Ägypten 1979 seinen kalten Frieden mit dem jüdischen Staat schließen wollte und Jordanien 1994 einen Vertrag zum Ausgleich mit Jerusalem unterschrieb, blieb Damaskus stets im Lager derer, die sich einem Kompromissfrieden verweigerten. Zwar gab es immer wieder – vorrangig in den neunziger Jahren – direkte und indirekte Gespräche. Manche Sondierung schien auf gutem Wege. Ein Durchbruch scheiterte aber daran, dass es zwischen Israelis und Syrern nie eine rein bilaterale Agenda gab. Für jede israelische Regierung waren Verhandlungen mit Damaskus ein Joker, der sich gegenüber Palästinensern oder Jordaniern ziehen ließ.
Fuß ins kühle Nass
Nach dem Epochenbruch von 1989/90 suchte Damaskus die Fühlungnahme mit Israel auch, um sich dem Westen zu öffnen und zu zeigen, wie sehr man die Zeichen der Zeit verstanden hatte. Doch es blieb dabei, dass beide Seiten stets mehr auf den Verhandlungseffekt als auf Verhandlungsergebnisse bedacht waren, weil die in weiter Ferne lagen. Für Syrien ging es darum, die von Israel 1967 im Sechs-Tage-Krieg eroberten und 1981 annektierten Golan-Höhen zurückzuholen – ein nationaler Konsens, den keine syrische Opposition infrage stellen kann. Der Zorn über den Verlust dieses Höhenzuges hat einst Hafez al-Assad, dem Vater des heutigen Staatschefs, zur Präsidentschaft verholfen. Im Jom-Kippur-Krieg 1973 wäre es der syrischen Armee fast gelungen, den Golan zurückzuerobern. Israelische Militärs geben inzwischen zu, dies sei nur mit Glück, unter Aufbietung letzter Kräfte und durch die Bombardierung von Damaskus verhindert worden. Der Ort Kuneitra ist seither eine Geisterstadt. Zwischen Panzerwracks und einstigen Gefechtsständen auf dem Golan kraxeln heute Schulklassen und Touristen.
So unstrittig es völkerrechtlich ist, dass der Golan zu Syrien gehört, so klar bleibt auch, dass eine Rückgabe nur dann erfolgt, wenn das Gebiet zur entmilitarisierten Zone erklärt wird. Der verminte Gebirgszug hat im Zeitalter von Hightech-Waffen zwar an strategischem Wert verloren. Aber dass die syrische Armee vom Golan aus über den See Genezareth hinweg israelisches Kernland anvisieren könnte, dürfte keine Regierung in Jerusalem je zulassen. Muss sie auch nicht, denn in informellen Verhandlungen sind längst territoriale und strategische Kompromisse festgelegt und kartografiert, die für beide Seiten annehmbar sind. Der letzte Versuch einer Einigung ist 2007 angeblich an Bashar al-Assad gescheitert, als der auf einer Grenzziehung am Ufer des Sees bestand und keine Stelle fand, an der er seinen Fuß ganz souverän ins kühle Nass tauchen konnte. Die Geschichte muss nicht stimmen. Sie demonstriert aber: Strategisch ist der Territorialkonflikt lösbar.
Schmerzlicher dürfte für Israel die Zukunft der Siedler auf dem Golan sein, obwohl diese Gegend nicht als „Heiliges Land“ gilt und weniger ideologisch aufgeladen ist als das Terrain in der Westbank. Aber wer auf dem Golan steht, begreift umgehend, dass es hier um soziale Existenzen und familiäre Bindungen geht. Das agrarisch genutzte Areal ist für Israelis längst Heimat geworden. Gleichwohl hat es immer wieder glaubwürdige Signale gegeben, Israel sei bereit, die Siedlungen für einen Frieden mit Syrien aufzugeben.
Als freilich Premier Netanjahu 2009 mit seiner Rechtsaußenkoalition zu regieren begann, war davon nichts mehr zu hören. Auch die neue große Likud-Kadima-Allianz, die der Regierungschef Anfang Mai überraschend einging, vermied bislang jede Positionsbestimmung. Das passt zur Sprachlosigkeit, in die Jerusalem angesichts der Ereignisse in Syrien verfallen ist. Man murmelt im Empörungschor leise mit, hält sich ansonsten jedoch auffallend bedeckt. Warum? Weil es eine geheime Agenda gibt, die auf den Sturz Assads zielt, ohne dies leichtfertig zu offenbaren? Das wäre dann Wasser auf die Mühlen der Staatspropaganda in Damaskus. Oder doch eher, weil die politische Klasse in Israel von der Härte des Konflikts in Syrien ebenso überrascht wurde wie vom gesamten Arabischen Frühling, von dem niemand weiß, ob er in einen Sommer der Demokratie oder eine islamistische, israelfeindliche Eiszeit mündet?
Keine Basta-Mentalität
Syrien unter Bashar al-Assad war – wie auch Ägypten unter Mubarak – für jede israelische Regierung eine verlässliche Größe. Angesichts militärischer Überlegenheit ließen sich – das hat die Geschichte gezeigt – mit autoritären Regimes verbindliche, die eigene Sicherheit garantierende Vereinbarungen schließen. Obendrein konnte man sich als einzige Demokratie in der Region präsentieren. Diese gedoppelte Sicherheit – gestützt auf strategische Macht und den Status quo bei den Nachbarn – gerät seit mehr als einem Jahr ins Wanken.
Innenpolitisch heizt das eine mit Leidenschaft geführte Debatte um den jüdischen und/oder demokratischen Charakter des Staates Israel an, der entscheiden muss, wie er mit den besetzten Gebieten verfahren will. Außenpolitisch könnte Israel in die Lage geraten, seine Sicherheitsinteressen mit demokratisch legitimierten arabischen Partnern abgleichen zu müssen. Die könnten sich auf ein Mandat berufen, das keine Basta-Mentalität mehr zulässt.
Auf den möglichen Verlust des demokratischen Alleinstellungsmerkmals, das für Israel auch ein Verhandlungsvorteil war, hat die Regierung Netanjahu bisher keine Antwort gefunden. Entsprechend schwierig wird es, die alten Interessen im neuen arabischen Kontext zu benennen. Konkret: Was man mit Assad in Syrien hatte, weiß man. Was ohne ihn käme, ist unklar. Strategisch ist die israelische Politik derzeit komplett auf die mutmaßliche iranische Atommacht fixiert. Was nützt oder schadet da ein regime change in Damaskus mit eskalierender Gewalt und einem denkbaren Machtvakuum? Die Antwort ist nicht eindeutig. Sollte Israel iranische Atomanlagen angreifen oder zumindest die Option aufrechterhalten wollen, wäre Syrien als Alliierter Teherans gefragt, damit die Brücke zwischen der Islamischen Republik und deren Gefolgschaft im Libanon erhalten bleibt. Nur, wie funktioniert diese „Versorgungslinie“ zu der im Zedernstaat mitregierenden Hisbollah, wenn Syrien im Chaos versinkt?
Was auch passiert – Israel muss an seiner „syrischen Front“ mit einem schwer kalkulierbaren Nachbarn rechnen. Wahrscheinlich einem Libanon II – nur potenziell gefährlicher, weil unberechenbarer. Das heißt, ein eskalierender Bürgerkrieg im Nachbarland kann nicht im Interesse Israels sein. Ein politisch geschwächtes Regime in Damaskus – mit oder ohne Assad – hingegen schon.
Torsten Wöhlert ist Iran-Wissenschaftler
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