Es ist schon erstaunlich, wie langsam strategische Veränderungen in das Bewusstsein politischer Akteure dringen - und wie gleichzeitig strategische Weichenstellungen vorgenommen werden, ohne dass die Öffentlichkeit auch nur ahnt, worauf sie da eben eingelassen wurde. Die EU befindet sich in einem rasanten Veränderungsprozess; Euro, Osterweiterung und nun eine eigene Armee? Der Freitag beschäftigt sich seit Anfang Februar mit Konsequenzen dieser Entwicklung.(*)
Zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges fallen die bitteren Früchte des Sieges - auf Seiten der Sieger! - nahezu ausschließlich den Europäern in den Schoß. Amerika hat es da besser. Als einzige verbliebene Supermacht auf diesem Globus strotzen die USA derzeit vor Selbstbewusstsein. Das Land erlebt den längsten Wirtschaftsboom seiner (kurzen!) Geschichte. Der New Economy scheint die Quadratur des Kreises zu gelingen: wachsende Einkommen, niedrige Zinsen, geringe Inflation, starker Beschäftigungszuwachs, hohe Aktienpreise, sinkende Armutsraten, steigende Gewinne und ein Staat, der schwarze Zahlen schreibt. Auf Reagonomics der Achtziger folgen Clintonomics der Neunziger mit den drei Schlüsselelementen: Haushaltsdisziplin, Umbau des Sozialstaates und radikaler technologischer Wandel im Zuge einer vom Staat offensiv begleiteten Globalisierung. Die hat Amerikas Mitte breiter und reicher gemacht, 63 Prozent der US-Haushalte leben heute oberhalb des Durchschnittseinkommens. Und von den verbleibenden 37 Prozent im unteren Segment stehen erheblich mehr Familien auf eigenen wirtschaftlichen Füßen als zuvor.
Ein schlanker, wirtschaftsfreundlicher Staat greift arrogante Imperien wie das eines Bill Gates an, konzentriert sein soziales Engagement auf Hilfe zur Selbsthilfe und überlässt die Mitte dem "freien" Spiel der Marktkräfte. Um den "Rest" kümmert sich private Wohlfahrt. All das ist ur-amerikanisch, funktioniert nur in Boomzeiten leidlich - und kann nicht kopiert werden. Schon allein deshalb nicht, weil der American way seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ganz wesentlich von der globalen Führungsposition der USA profitiert.
Wohlstand durch globale Umverteilung von unten nach oben - Amerikas Elite weiß das sehr genau, die Mitte ahnt es instinktiv, und insgesamt haben sich alle - mit Ausnahme ein paar versprengter Linker - daran gewöhnt, dass - beispielsweise - billiges arabisches Öl als vitales amerikanisches Interesse mit allen Mittel verteidigt werden muss. Friedlich, wenn es irgend geht, wenn nicht, dann mit Gewalt. Soweit die Konstante amerikanischer Globalpolitik.
Je deutlicher sich Amerika jedoch wirtschaftlich und militärisch vom Rest der Welt absetzt, je klarer Dominanz und Attraktivität des amerikanischen Modells nach außen wirken und je weniger es im inneren zur Disposition steht, desto stärker wächst die Supermachthybris. "Wozu haben wir all die großartigen Streitkräfte, wenn wir sie nicht einsetzen?" ließ sich Madeleine Albright auf dem Höhepunkt der Kosovo-Krise vernehmen und diktierte den europäischen Verbündeten die amerikanische "Lösung" des Problems. Der transatlantische "Partner" wurde vorgeführt, erst politisch, dann militärisch und danach wieder politisch. Die Amerikaner nennen so etwas eine self fulfilling prophecy.
Diese hier gründet in dem Glauben an eine High-Tech-Kriegführung über lange Distanzen, die eigene Verluste gegen Null gehen lässt. Dafür sind die Europäer nicht gerüstet. Deshalb brauchte jeder europäische Kampfjet über Serbien vier amerikanische als Begleitung - zum Schutz, zur Kommunikation und zur Datenauswertung. Also soll Europa umrüsten, nachrüsten und aufrüsten, um den USA wieder ein Partner im globalen Spiel werden zu können. Ein fataler Irrweg!
Washington reagiert seit 1990/91 international nahezu entfesselt, kennt Beschränkungen kaum noch als Ergebnis machtpolitischer Kompromisse auf der globalen Bühne, sondern fast ausschließlich als Selbstbeschränkung. Als Inspiration ist das amerikanische Credo von individueller Freiheit, Unabhängigkeit, Selbstbehauptung und Glücksanspruch unbenommen. Als gesellschaftspolitischer Entwurf hat es die vergangenen 250 Jahre der Menschheitsgeschichte entscheidend geprägt und voran gebracht. Als globaler Alleinvertretungsanspruch überfordert es beide Seiten: sich selbst und den "Rest der Welt."
Deshalb brauchen die Vereinigten Staaten eine partnerschaftliche Gegenmacht. Einziger Kandidat dafür ist Europa, wobei die Betonung auf beiden Aspekten liegt: Partner und Gegenmacht. Wer eine multipolare Welt amerikanischer Hegemonie vorzieht, wird dafür sorgen müssen, dass sich alternative Machtzentren entwickeln, die im Wettbewerb mit den USA bestehen können. Die Weltmacht Europa darf damit auch für eine europäische Linke kein Tabu sein.
Entscheidend bleibt jedoch, was für eine Weltmacht da entsteht, auf welchem Wege und mit welchen Zielen. Genau darüber wird allenfalls am Rande, auf keinen Fall aber systematisch und strategisch nachgedacht. Gleichzeitig entstehen Fakten, die ein Manko vieler europäischer Linker aufzeigen: Ihre fortgesetzte Fixierung aufs Nationale. Europa stellt sich entweder - wie anderswo auch - als kleinster gemeinsamer Nenner nationaler Interessen und Befindlichkeiten dar oder aber als anti-nationaler Fluchtpunkt. Die globale Ebene bleibt sträflich unterbelichtet. Und das, obwohl kaum noch jemand bestreitet, dass nachhaltige, sozialstaatliche Entwicklung in Europa ihren letzten, ergo besten Anwalt mit globalem Gewicht hat.
Allein die Entwicklung dieser Gegenmacht bleibt höchst ambivalent. Beispiel Euro: Dass die europäische Integration mit einer erfolgreichen Wirtschafts- und Währungsunion entscheidenden Auftrieb erhalten wird, ist ebenso unbestritten wie die Gefahr nationalistischer Rückschläge, wenn das Projekt scheitert. Insofern ist auch die Linke beim Euro zum Erfolg verdammt. Gleichzeitig stellt selbst eine erfolgreiche Währungsunion für die europäische Linke eine derbe Niederlage dar. Denn: Die intendierte Logik des Euro ist neoliberaler Natur - das heißt, Politik folgt den Vorgaben der Wirtschaft und bleibt reaktiv. Nur im besten Fall wird die Euro-Stärke des Alten Kontinents einer nachhaltigen, sozialstaatlichen Entwicklung globalen Auftrieb verleihen können. Die Chancen dafür stehen schlecht genug.
Was aber passiert unter den Bedingungen der beschlossenen EU-Osterweiterung? Die wird - das ist ziemlich sicher - den gesamt europäischen Integrationsprozess verflachen lassen. Damit geraten soziale und ökologische Errungenschaften in Gefahr, von weiteren Fortschritten auf diesen Gebieten ganz zu schweigen. Wenn Europa sich jedoch wirklich als Alternative zum US-amerikanischen Weg ins 21. Jahrhundert präsentieren will, dürfte genau das nicht passieren. Also braucht es beides: Erweiterung nach Osten (die zu stoppen, politischer Selbstmord wäre) und Vertiefung im Kernbereich der EU. Das freilich birgt die Gefahr einer erneuten Spaltung. Um diese zu verhindern, muss innerhalb der erweiterten EU noch stärker und gezielter umverteilt werden - vom Kern an die Ränder und hier primär in soziale und ökologische Bereiche des Integrationsprozesses. Wer aber weiß, wie schwer sich die reichen EU-Mitglieder bis heute tun, Mittel überhaupt umzuschichten und wie mühsam es ist, der Währungsunion wenigstens ein paar sanfte soziale oder beschäftigungspolitische Korsettstangen einzuziehen, ahnt welche Herkulesarbeit da bevorsteht.
Viel wahrscheinlicher ist deshalb auch, dass die EU im Zeichen der Globalisierung "ver-ostet". Eine solche Erweiterung verspricht globalen Machtgewinn durch strategische Expansion und ökonomische Neoliberalisierung - um den Preis sozialstaatlicher Deregulierung und kultureller Identitätsverluste. Von Gegenmacht bliebe wenig übrig - mit einer möglichen und wichtigen Ausnahme: Sicherheit. Doch auch der Zug ist bald abgefahren, wenn sich Europa nicht stärker von den USA emanzipiert.
Angefeuert durch die ökonomische, technologische und militärische Überlegenheit, hat Washington in den vergangenen Jahren ein sicherheitspolitisches Verständnis entwickelt, das ebenso illusionär wie gefährlich ist. Es begreift Sicherheitsprobleme vor allem als technologische Herausforderung moderner Verteidigungspolitik: Um der realen Gefahr durch Weitergabe von Massenvernichtungswaffen zu begegnen, werden neue Raketenabwehrsysteme entwickelt. So sollen nicht nur der nordamerikanische Kontinent, sondern auch US-Truppen im Ausland geschützt werden.
Ein solches Konzept ist - wenn überhaupt praktikabel - genau das Gegenteil von kollektiver Sicherheit. Es schafft nicht Vertrauen, sondern sät Misstrauen und liegt damit genau in der Logik einer kurzatmigen NATO-Osterweiterung, die Europa insgesamt nicht mehr, sondern eher weniger Sicherheit beschert hat. So essenziell die transatlantische Partnerschaft für beide Seiten ist, eine deckungsgleiche Interessenkongruenz resultiert daraus nicht. Nicht alles was für Amerika gut ist, muss automatisch auch im Interesse Europas liegen. Der American way kann werde kopiert werden, noch ist er der allein seligmachende.
Vor diesem Hintergrund darf die Herausbildung einer Gemeinsamen Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik durchaus begrüßt werden. Soweit es sich dabei um die Organisation kollektiver Sicherheit und ziviler Krisenprävention oder -intervention in Europa handelt, ist das auch unstrittig. Hier müssen - gerade angesichts der leidvollen Erfahrungen im 20. Jahrhundert - Schwerpunkte europäischer Politik liegen. Nun aber gibt sich die EU einen bewaffneten Arm - vorerst in Gestalt von Krisenreaktionskräften und einer kleinen militärischen Planungsstruktur in Brüssel. Deshalb gleich von einer Militarisierung der EU zu sprechen, ist reichlich übertrieben. Die Europäische Union bleibt eine Zivilmacht, daran ändern auch ein paar tausend Mann gemeinsame Truppen nichts.
Zumal eine europäische Kooperation auf verteidigungs- und militärpolitischem Gebiet nicht per se schlecht sein muss. Sie kann sogar zu sinkenden Rüstungsausgaben und realer Abrüstung führen, wenn dies beispielsweise an einen Abbau nationaler Streitkräfte gekoppelt wird. Das amerikanische Trommelfeuer der letzten Wochen weist jedoch in eine andere Richtung. Europa soll kompatibel werden. Genau darin aber liegt die wirkliche Gefahr: Ein moderner europäischer Pfeiler innerhalb einer NATO, die sich als sicherheitspolitische Nummer Eins auf dem Globus begreift und selbstherrlich entscheiden, wann, wo und mit welchen Mittel sie interveniert. So stellt sich das Rudolf Scharping vor. Eine solche NATO aber wäre primär im Interesse amerikanischer Globalpolitik, weil sie den USA Lasten abnehmen würde. Zum Dank dafür, dürften die Europäer gelegentlich auch allein auf NATO-Strukturen zurückgreifen, freilich nicht, ohne vorher zu fragen. In einer solchen Allianz werden die Europäer immer die zweite Geige spielen. Und sie kommen in die Gesamthaftung für eine Sicherheitspolitik, die immer weniger mit politischer Gestaltung und immer mehr mit sturem Containment zu tun hätte.
Das ist nicht im europäischen und auch nicht im deutschen Interesse. Deshalb gibt es zu einer gesamteuropäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität keine Alternative. Der ideale Rahmen dafür wäre die OSZE. Wenn die EU ihr ziviles - und militärisches -Potenzial in diesem Sinne bündelt, strafft und neu organisiert, kann das nur gut sein. Eine Europäische Union jedoch, die ihre Erweiterung mit dem Verlust an sozialökonomischer Gegenmacht bezahlt und sich obendrein sicherheitspolitisch auf die Rolle eines militärisch potenten Juniorpartners der USA reduziert, wäre über kurz oder lang zum Scheitern verurteilt.
(*) Peter Linke: "Letzte Ausfahrt Europa" 6/2000; Frank Unger: "Die USA und die Identitätskrise der Nato" 7/2000; Volker Böge: "Atlantische Tiefausläufer" 8/2000; "Wirkungstreffer beim Schattenboxen", Interview mit Gernot Erler 9/2000.
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