Als die Mauer hochgezogen wurde, war ich im achten Monat meiner Existenz. Pränatale Erschütterungen sind nicht überliefert. Ich kam und die Mauer war schon da. Punkt. Wir 61-er sind mit diesem Bauwerk aufgewachsen, die meisten ganz »normal«.
Normalität im Schatten der Mauer hieß, alles war immer irgendwie politisch, sollte es sein oder wurde so gedeutet. Klassenkampf eben. Was logisch schlecht erklärt werden konnte und wider die eigene Erfahrung oder den gesunden Menschenverstand ging, erfuhr in den politischen Agitationsmühlen eine wundersame Wandlung ins »Normale«, von der »Täter« und »Opfer« nicht selten gleichermaßen erstaunt waren. Der Klassenstandpunkt hat noch jedes schiefe Bild gerade gerückt, noch jede Schlacht gewinnen helfen.
Meine erste schlug ich mit vierzehn als Versammlungsleiter eines FDJ-Studienjahrs. Dass ich da vorn saß, nahmen mir selbst die besten Freunde übel und ließen mich drei Stunden lang Spießruten laufen. Ein prägendes Erlebnis, zumal das ideologisierte Kräftemessen unter »Männern« nur einen tieferen Sinn hatte: dem schönen Geschlecht zu imponieren. Da gab es kein zurück, für niemanden. Je heftiger die anderen opponierten, desto politischer wurde meine Leitung. Als die Versammlung zu kippen drohte, stellte ich die Klassenfrage - und gewann.
Am Abend tauchte mein Lehrer zu Hause auf und erklärte meinen verdutzten Eltern, was für einen klassenbewussten Sohn sie erzogen hätten. Eigentlich wollte er aber nur wissen, ob ich ohne Prügel heim gekommen war. Der Mann hieß Sanftleben, maß 1,95 und machte seinem Namen auch Monate später alle Ehre. Hausbesuch: Es ging um die Zulassung zur Erweiterten Oberschule (EOS), der schnellste Weg zum Abitur. Pünktlich um acht, die Eröffnungsmelodie der Tagesschau war nicht zu überhören, betrat er die Wohnung. Der Fernseher wurde abgeschaltet. Das gehörte sich so, wenn Besuch kam. Später dann der obligatorische Fragebogen: »Westfernsehen? - Ist hier ja nicht!«. Sprach´s, stand auf und verabschiedete sich mit einem Lächeln.
An jenem Tag aber, da ich die Klassenfrage gestellt hatte, ließ er uns erleichtert wissen, dass ich meine »politische Feuertaufe« bestanden hätte. Für mich war´s ein Pyrrhus-Sieg. Die Schönen gehörten alle zur »Opposition«; nicht unbedingt aus Überzeugung, eher aus Prinzip und weil dort mehr los war. Dass wir die gleichen blauen Hemden trugen, hatte nichts zu bedeuten.
Für uns 61-er war die Mauer vor allem eine innere Angelegenheit. Sie teilte weniger Deutschland als vielmehr die DDR, ging durch Klassenverbände, Seminargruppen, Familien und brachte Verhaltensweisen hervor, die so normal waren, dass kaum einer auf den Gedanken kam, sie schizophren zu nennen. Nie wurde unsereins patriotischer als beim politischen Small talk mit Gleichaltrigen aus der Bundesrepublik, die wir auf unseren »Ostblock-Safaris« in Budapest oder im Prager »U Fleku« trafen. Und selten hatte man es einfacher als bei diesen Diskussionen. Wir wussten »alles« vom Westen, die anderen kannten so gut wie nichts von unserer Wirklichkeit. Wir fühlten uns richtig überlegen.
Nach einer dieser Begegnungen wurde ich zu meinem ersten Artikel aufgefordert - vom Redakteur einer Wolfsburger Schülerzeitung. Es wurde eine heftige Polemik gegen das Wort von der »inner-deutschen Grenze«. Ich bestand auf »deutsch-deutsch«. Schließlich gab es zwei deutsche Staaten. Wie gut oder schlecht die auch sein mochten, sie blieben ein Tatsache. Wir kannten nichts anderes. Und die Mauer? Die war da, damit wir nicht abhauen konnten. Warum sonst wies der Stacheldraht nach innen? Die Mär vom »antifaschistischen Schutzwall« ging zu unserer Zeit selbst im dogmatischen Staatsbürgerkundeunterricht nicht mehr unwidersprochen durch.
Die Mauer sollte nicht weg, wir wollten sie durchlässig haben - für uns. Und wenn wieder so viele weggingen? Die meisten würden zurückkommen. Vor allem, wenn der Pass mit dem Adler nicht so einfach zu haben wäre.
Anerkennung gegen Bewegungsfreiheit - das wäre unser Deal im Kalten Krieg gewesen. Dass Honecker und Kohl seit Mitte der achtziger Jahre genau darüber verhandelten bzw. verhandeln ließen, hat mich, als ich nach der Wende davon erfuhr, nicht überrascht. So etwas lag damals in der Luft. Die Gespräche scheiterten. Aber nicht am späteren Einheitskanzler Kohl, sondern an Honecker. Der ahnte wohl, dass eine durchlässige Mauer der Anfang vom Ende »seines« Staates gewesen wäre.
Soweit jedoch reichte unsere Phantasie damals nicht. Die blieb an der Mauer hängen. Ein Bauwerk, das in der DDR-Provinz - also außerhalb Berlins - zudem kaum erfahrbar war. Der Hauptstadt-Tourismus wurde so immer auch zur Grenzerfahrung. Wer kam, um begehrte Konsumartikel zu erstehen, mit denen die Berliner bevorzugt beliefert wurden, traf irgendwann auf diese Mauer. Die Faszination, dahinter könnte eine ganz andere Welt sein, hat mich nie losgelassen. Auch später nicht, als ich fast täglich an dem Betonwall entlang zur Straßenbahn ging - begafft und gelegentlich vollgenölt von eifernden Frontstadttouristen auf ihren Aussichtsplattformen.
Als Ronald Reagan Gorbatschow 1987 aufforderte die Mauer einzureißen, fanden wir das genauso affig wie später Honeckers Satz von den hundert Jahren, die dem Bauwerk noch beschieden seien. Reformen würden vor der Mauer nicht halt machen können. Doch der Druck zur Öffnung sollte aus Moskau kommen, nicht aus Washington. So naiv das heute klingt, so weit verbreitet war diese Auffassung damals - auf beiden Seiten der Mauer. Wer hat sich vor der Geschichte eigentlich mehr blamiert: die wenigen kritischen Sozialismus-Reformer im Osten oder die Ost-Forscher im Westen?
Wir haben die Mauer überlebt. Die meisten von uns mehr oder weniger unbeschadet. Wer nicht wollte, mussten sie auch nicht verteidigen. Weder verbal noch mit der Waffe. »Nicht an die Grenze.« Nicken bei der Musterungskommission. Ich kenne keinen, der gegen seinen erklärten Willen Gefahr lief, Menschen von hinten erschießen zu müssen. Aber einige, die nicht wussten - oder wissen wollten - was auf sie zukam und später bei ihrer »Friedenswacht« daran fast zugrunde gegangen wären. Echte Überzeugungstäter jedoch wurden Mangelware, nur Gleichgültige gab es reichlich. Bis zum Schluss.
Die Mauer ist weg, aber die Mauerbiographien werden uns wohl nie ganz loslassen. Fragen bleiben - noch unbeantwortet. K., ein Schulfreund und ziemlich linientreu, war plötzlich »drüben« bei seiner Freundin. Wie? Ganz ohne Hilfe und Auftrag? Irgendwann, wenn genug Gras über das Bauwerk gewachsen ist, werden wir uns auch diese Geschichten erzählen - und unseren Kindern. Meine Tochter wird bald dreizehn. Wenn die Mauer früher gefallen wäre, käme sie im Herbst zur Schule. Vielleicht.
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