Kandidatenpoker

EU-GIPFEL Es hat keinen Sinn, die Türkei im europäischen Abseits zu lassen

Es gibt gute und schlechte Gründe, die Türkei auf dem Helsinkier EU-Gipfel als Beitrittskandidaten aufzunehmen. Und: Es gibt gute und schlechte Gründe, ihr genau das zu verwehren. Wer sich die Europäische Union als christlich-abendländischen Club wünscht, wird die Tür geschlossen halten wollen. "For Whites only" kann jedoch keine europäische Perspektive sein, die diesen Namen verdient. Auf der anderen Seite: Nimmt die EU ihre eigenen Kriterien in Sachen Demokratie und Menschenrechte genau, dann müsste Ankara bleiben, was es seit Jahrzehnten ist: ein Kandidat im Wartestand.

Doch dazu wird es nicht kommen. Aus schlechten Gründen, weil eine militärisch untersetzte Außen- und Sicherheitspolitik der EU, wie sie in Helsinki weiter vorangetrieben werden soll, ohne den NATO-Partner Türkei zu kostspieligen Reibungsverlusten führt. Am Schnittpunkt zwischen drei Krisenbögen auf dem Balkan, in Zentralasien und Nahost gelegen, ist die EU-Integration der Türkei strategisch durchaus sinnvoll. Ob das auch unter zivileren außen- und sicherheitspolitischen Prämissen gilt, bleibt zumindest fraglich.

Unabhängig davon, gibt es aber auch eine Reihe guter Gründe, Ankara endlich vom virtuellen zum realen Beitrittskandidaten zu befördern. Nicht nur, weil die EU seit Jahrzehnten im Wort steht, weil der Zypern-Konflikt sonst ungelöst bliebe oder weil Menschenrechtsgruppen in der Türkei sich von diesem Schritt konkrete Verbesserungen versprechen. Die offizielle Beitrittskandidatur wäre das Ende einer unsäglichen türkisch-europäischen Hängepartie und die Chance, auf dieser Grundlage neu anzufangen. Und zwar für beide Seiten.

Brüssel wird - und das ist richtig - die Aufnahme konkreter Verhandlungen an Demokratie- und Menschenrechtsstandards knüpfen, wie sie in den Kopenhagener Kriterien der EU formuliert sind. Die Stunde der Wahrheit aber kommt erst danach, wenn Ankara gezwungen ist, sich der Übernahme des EU-Besitzstandes zu stellen, also all jener Werte, Vorschriften, Gesetze und Verordnungen, auf die sich die Mitgliedsstaaten in ihren Verträgen bisher geeinigt haben. So, wie die Türkei heute verfasst ist, hat sie keine Chance, Vollmitglied der Europäischen Union zu werden. Mehr noch: Vor einem Beitritt stünde auch die kemalistische Staatsräson zur Disposition.

Deshalb ist es überhaupt nicht ausgemacht, ob die Verhandlungen, wenn sie denn beginnen, zu einem erfolgreichen Abschluss kommen. Gut möglich, dass die türkische Seite sich auf halben Weg anders besinnt. Sei es, weil Eliten um Besitzstände fürchten, oder weil sich beispielsweise zeigt, um wieviel besser die Türkei ihre spezifischen Interessen und Brückenfunktion nicht als Vollmitglied, sondern in enger Bindung an die EU wahrnehmen kann.

Ernüchterung wird es in jedem Fall geben. Die ist schon jetzt in vielen mittelosteuropäischen Staaten spürbar, weil sich langsam zeigt, welch einschneidenden Charakter die EU-Mitgliedschaft hat. Und doch gibt es für diese Länder, von denen in Helsinki weitere sechs als Kandidaten aufgenommen werden sollen, keine andere Alternative. Den Sogwirkungen des europäischen Wirtschaftsblockes sind sie - spätestens seit der Assoziierung - ohnehin ausgesetzt. Mit einem Beitritt würden sich nicht nur weitere Fördertöpfe, sondern darüber hinaus auch politische Gestaltungsmöglichkeiten erschließen.

Vorausgesetzt freilich, die EU selbst wäre auf eine Erweiterung vorbereitet. Davon aber kann bisher keine Rede sein. Die Union muss sich reformieren, um größer werden zu können. Nur: Wie groß will die EU am Ende sein, und in welche Richtung sollen Reformen gehen? Während die erste Frage kaum debattiert wird, sind für die zweite bereits Pole gesetzt: Hier der neoliberale Wirtschaftsblock mit militärischen Krisenreaktionskräften, dort ein europäischer Sozialstaat mit nachhaltiger Wirtschaftspolitik und kollektivem Sicherheitsansatz. In Reinkultur wird es beides nicht geben. Es geht um Dominanz, und genau dafür werden in Helsinki weitere Weichen gestellt.

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