In den palästinensischen Gebieten droht ein Bürgerkrieg. Droht? Es gibt Beobachter, die sagen, der sei längst ausgebrochen. Das Wort Friedensprozess kommt selbst unverbesserlichen Optimisten seit Jahren nicht mehr über die Lippen. Inzwischen braucht man ein gutes Archiv, um sich angesichts alltäglicher Gewalt an all die geplatzten Träume von Frieden und Wohlstand zu erinnern. Shimon Peres hatte solche Visionen einst in der Euphorie nach dem Oslo-Abkommen von 1993 entwickelt und wurde dafür schon damals müde belächelt. Wer heute sein in dieser Zeit veröffentlichtes Buch mit dem schönen Titel Die Versöhnung. Der neue Nahe Osten liest, kann das verstehen. Es klingt wie nach Phantasien von einem anderen Stern.
Ein Gedanke allerdings hat sich hartnäckig gehalten: Dass die Demokratisierung der palästinensischen Gesellschaft der entscheidende Schlüssel für eine Wende zum Besseren ist. Peres schrieb damals: "Der einzige Weg, der den palästinensischen Organisationen offen steht, um Hamas zu überwinden, ist der Weg zur Urne." Genau das ist inzwischen passiert. Die Palästinenser haben die in ihren Augen unfähige und korrupte PLO zu Recht abgewählt und stattdessen mehrheitlich Hamas Verantwortung übertragen. Seitdem haben nicht nur Präsident Abbas und seine Fatah, sondern auch alle anderen Konfliktparteien ein Problem. Wie vor allem der Westen damit umgeht, wirkt ebenso hilflos wie ignorant. Hamas steht für die verweigerte Anerkennung der Existenz Israels in welchen Grenzen auch immer, aber eben auch für ein Netz religiös-sozialer Wohlfahrtseinrichtungen, die das Versagen staatlicher Strukturen kompensieren.
Wofür genau jedoch Hamas eine Mehrheit bekam, ist nicht erschöpfend geklärt. Es wäre wichtig, dies herauszufinden. Natürlich können weder Israel noch die internationale Gemeinschaft eine palästinensische Regierung unterstützen, die den jüdischen Staat von der Landkarte tilgen möchte und in diesem "Befreiungskampf" zum Terror greift, doch kann man andererseits nicht freie Wahlen zum Nonplusultra erklären, um dann den Rücken zu kehren, weil einem das Ergebnis nicht passt. Ein solches Verhalten wirkt, als wollte man dem Sponti-Spruch, dass Wahlen verboten wären, wenn sie etwas ändern würden, zu einem nahöstlichen Revival verhelfen.
Natürlich muss mit Hamas geredet werden - nur geht es nicht an, solche Gespräche daran zu knüpfen, dass vorab Bedingungen wie ein Gewaltverzicht oder die Anerkennung Israels zu erfüllen sind. Wozu dann noch reden? Es ist ebenso falsch, die Hamas-Regierung wie einen Paria zu behandeln und von allen Seiten den Geldhahn zuzudrehen - und sich dann zu wundern, warum nach 100 Tagen ohne Lohn die letzten Reste von Infrastruktur zusammenbrechen, die staatlichen Sicherheitsapparate Amok laufen, auf den Straßen die Gewalt explodiert. Es sei denn, genau das ist gewollt. Um den Palästinensern zu zeigen, wer ihre wahren Interessen vertritt, wen sie also künftig zu wählen haben und wen nicht?
Nein, genau andersherum. Ist das Demokratisierungsgebot ernst gemeint, muss sich die internationale Gemeinschaft einiger Grundwahrheiten vergewissern. Die palästinensische Gesellschaft ist ohne Hilfe von außen nicht lebensfähig. Ein offener Bürgerkrieg ruiniert alles bisher Erreichte, zerstört jeglichen Ansatz von Zivilgesellschaft, bietet den idealen Nährboden für Terror und steigert das Sicherheitsrisiko für die israelische Bevölkerung - egal wie hoch und dicht der Zaun gezogen wird.
Bezeichnend und durchaus hoffnungsvoll ist, dass ein Weg aus dem offensichtlichen Dilemma nicht durch kluge Diplomatie von außen, sondern durch eine gemeinsame Erklärung prominenter palästinensischer Gefangener von Fatah und Hamas (s. Freitag 24/06) möglich scheint, die diese aus der israelischen Haft heraus publiziert haben. Allein die Tatsache, dass ein solches Dokument entstehen konnte, die Öffentlichkeit erreicht hat und von Präsident Abbas zum Gegenstand eines möglichen Referendums erklärt wird, spricht dafür, dass dem gesamten Vorgang ein enormes Potenzial an konkurrierender Instrumentalisierung inne wohnt. Der Text selbst liest sich wie eine "Charta der Palästinenser", die an den Ausgangspunkt der Verhandlungen vor 14 Jahren erinnert.
In diesem Dokument steckt mehr politischer Sprengstoff als der israelischen Regierung angesichts bisher erzielter Vereinbarungen lieb sein kann. Wenn sie die Idee eines Referendums dennoch goutiert, dann aus einem einzigen, aber wichtigen Grund: Die Palästinenser hätten so die Chance, sich erstmalig bei einem demokratischen Votum für ein Existenzrecht Israels im Rahmen einer Zwei-Staaten-Lösung auszusprechen, ohne dabei ein Präjudiz über Modalitäten abgeben zu müssen, die nur in Verhandlungen zu klären sind. Zur Erinnerung: Über die Verträge von Oslo und alle Folgevereinbarungen ist nie abgestimmt worden.
Das Verfahren wäre ein Novum in der Geschichte palästinensischer Selbstbestimmung. Dass sich Hamas gegen ein solches Plebiszit wehrt, darf nicht wundern. Die Absicht von Mahmud Abbas, die Wahlniederlage seiner Fatah auf diesem Weg durch die kalte Küche zu revidieren, ist deutlich genug. Und doch könnte ein solches Votum auch für Hamas eine Chance sein. Deren Führer wüssten dann, als was sie gewählt wurden - als Todfeinde Israels oder als Konkurrenten der Fatah, mit anderen innen- und außenpolitischen Vorstellungen für einen palästinensischen Staat. Nach allen bisherigen Prognosen würde die Mehrheit der Palästinenser im Grundsatz für eine Zwei-Staaten-Lösung stimmen. Ignoriert Hamas dieses wahrscheinliche Ergebnis, droht ein offener Bürgerkrieg. Nähme sie es als Teil ihres Regierungsauftrages an, könnte sie ihr Gesicht ohne Kniefall vor der abgewählten Konkurrenz wahren. Das wäre gelebte Demokratie. Israel bekäme einen Verhandlungspartner, der sich - anders als zuvor - erzielte Vereinbarungen demokratisch legitimieren lassen müsste.
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