Leichen als Waffe

ZYNISMUS Moralische Kollateralschäden an der ideologischen Heimatfront

Leichenberge sind die wohl widerwärtigsten Waffen in den ideologischen Grabenkämpfen der neuen Nachkriegszeit. Und doch werden sie aufs Heftigste eingesetzt. Den regierenden »Siegern« dienen die im Kosovo entdeckten Massengräber postum als Rechtfertigung eines sinnlosen Luftkrieges gegen Serbien. Auf der anderen Seite versteigen sich NATO-Kritiker soweit, die toten Albaner primär der Allianz anzulasten. Mit dem Argument: Wer von Massengräbern gesprochen hat, als es noch keine gab, dem mußte doch klar sein, daß ein Luftkrieg sie erst produzieren wird. Beides ist hochgradig realitätsfremd und zynisch.

Natürlich konnte man schon vor dem Beginn der Bombardierungen wissen, welches Schicksal die Kosovo-Albaner erwarten würde. Schließlich war Kosovo nicht der erste jugoslawische Erbfolgekrieg. Oder glaubt jemand, die Erinnerungen an Bosnien wären verblaßt gewesen? Sie waren es nicht. Nicht bei den Albanern, die von ihren serbischen Landsleuten vertrieben und ermordet wurden. Und sie sind es nicht bei jenen Serben, die jetzt unter den Augen der KFOR vor albanischem Racheterror aus dem Kosovo fliehen. Gerade so, wie 1995 200.000 Serben vor dem kroatischen Terror aus der Krajina weichen mußten.

Nein, Bestialität ist ganz gewiß keine spezielle serbische Eigenschaft. Und daß ausgerechnet deutsche Medien sich in anti-serbischen Ressentiments überschlagen, verrät die Berechtigung eines tiefen Mißtrauens gegenüber der behaupteten neuen deutschen Normalität. Wahr ist aber auch, daß sich Kriege und Bürgerkriege auf dem Balkan bis heute durch eine besondere Härte, Verbissenheit und Brutalität auszeichnen. Man konnte es also wissen.

Außerdem - und auch das ist belegt - begann die Vertreibung der Kosovo-Albaner vor den Bombenangriffen, noch während der Rambouillet-Verhandlungen. Die waren zwar - aufgrund amerikanischer Korsettstangen - nicht dazu angetan, MilosŠevic´ von seinem Hufeisen-Plan wirklich abzubringen, also: eine politische Lösung des Kosovo-Konflikts zu ermöglichen. Gleichwohl hat es einen solchen Plan - wie Dokumentenfunde jetzt belegen - nicht nur gegeben. Er wurde auch durchgestellt und umgesetzt. Warum daran zweifeln? Schließlich durfte MilosŠevic´ mit gutem Grund annehmen, daß er im Kosovo freie Hand hätte. Das war sein Preis für Dayton. Und der Westen tat vor den Bomben wenig, ihm diese Illusion zu nehmen. Er ist also auch in diesem Punkt alles andere als unschuldig.

Am Ende aber waren es nicht NATO-Soldaten, die Menschen vertrieben, Frauen vergewaltigten, Genickschüsse setzten und Leichen verbrannten, sondern serbische Armee-Einheiten, Paramilitärs und Sonderpolizei. Nicht wenige NATO-Politiker glaubten, diese Verbrechen mit einem Luftkrieg gegen Serbien verhindern oder doch schnell beenden zu können. Und so mancher spekulierte außerdem (oder vorrangig?) mit dem »Neben effekt« künftiger »out of area«-Freibriefe. Die Militärs waren da weitaus skeptischer. Sie sollten recht behalten. Die NATO hat internationales Völkerrecht gebrochen und damit einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. Ihre »smarten Bomben« haben die Verbrechen im Kosovo nicht verhindert, den Konflikt nicht entschärft, sondern eskaliert. Und: Sie lud sich selbst unschuldige Opfer auf das Gewissen. Von den materiellen »Kollateralschäden« und der gezielten Zerstörung ziviler Infrastruktureinrichtungen, die gegen geltendes Kriegsrecht verstießen, ganz zu schweigen.

Nein, die Massengräber legitimieren den Luftkrieg gegen Serbien nicht. Sie zeigen jedoch, daß es Gründe gab, Belgrad in den Arm zu fallen - auf jeden Fall diplomatisch, politisch und ökonomisch. Und militärisch? Am Ende muß auch das möglich sein. Aber nicht so. Das heißt: Nicht ohne ein völkerrechtliches Mandat der UNO oder der OSZE und nicht als Vernichtungskrieg aus der Luft, der jegliche »Kollateralschäden« in Kauf nimmt, um die eigenen Verluste gegen Null zu drücken. Wenn diese Illusion der risikoarmen High-Tech-Kriegführung Schule macht - und genau das steht zu befürchten - wird die militärische Hemmschwelle weiter sinken.

Im Pentagon hat der Kampf zwischen der »siegreichen« Luftwaffe und den »frustrierten« Landstreitkräften um zukünftige Budget-Pfründe längst begonnen. Auch andere Generalstäbe rund um den Globus arbeiten eifrig an einer Auswertung des Kosovo-Krieges. Die nächste Runde globalen Wettrüstens ist eingeläutet. Krieg als alltägliches Mittel der Politik droht, wieder salonfähig zu werden.

Wer das verhindern will, hat eigentlich keine Zeit für ideologische Grabenkämpfe. In Jugoslawien werden nicht die letzten Schlachten des Kalten Krieges geschlagen, sondern die ersten einer »neuen Weltordnung«. Die wird nicht frei von Machtinteressen sein und mithin genug Anlaß zur Kritik bieten. Was aber wäre dagegen einzuwenden, wenn in dieser neuen Ordnung Menschenrechte und Minderheitenschutz wichtiger sein können als staatliche Souveränität? Was spricht gegen solch eine politische Moral? Nichts, wenn sie Menschenrechte umfassend bestimmt und sich einen völkerrechtlich verbindlichen Rahmen für die vorrangig zivilen, im Ausnahmefall aber auch militärischen Formen humanitärer Interventionen gibt. Einen Rahmen, der die Zweck-Mittel-Relation wahrt, soziale Menschenrechte ein- und Mißbrauch ausschließt. Auf der UNO-Ebene wird solch ein Interventionsrecht am amerikanischen, chinesischen und russischen Widerstand scheitern. Im Rahmen der OSZE wäre es einen Versuch wert.

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