Mauerfall im Mittelmeer

ZYPERN Nach 25 Jahren Teilung stehen die Chancen für ein Ende des Inselkonflikts so günstig wie lange nicht

Es könnte alles nur ein Trick sein, ein Bluff Ankaras, um über den Helsinkier EU-Gipfel in der nächsten Woche zu kommen. Dort nämlich soll, wenn alles gut geht, die Türkei zusammen mit fünf anderen Staaten Mittelosteuropas offiziell in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen werden. Trotz Todesurteil, Kurdenkrieg, Demokratiedefiziten und Men schenrechtsverletzungen. Und damit alles gut geht, ist nun auch in die Zypernfrage wieder Bewegung gekommen. Ein Strohfeuer?

Noch im Oktober hatte der türkische Ministerpräsident bei seinem Antrittsbesuch in Washington auf wiederholte Nachfragen verärgert erklärt, es gäbe kein Zypernproblem. Das hätte sich 1974 erledigt. Und Rauf Denktasch, Präsident der Türkischen Republik Nordzypern wollte seinen Teilstaat erst anerkannt wissen, bevor er sich mit dem zypriotischen Präsidenten Klerides wieder an einen Tisch setzt.

Plötzlich aber war alles ganz anders: Noch vor dem OSZE-Gipfel in Istanbul ließ der UN-Generalsekretär Kofi Annan verlauten, Denktasch und Klerides würden ab 3. Dezember indirekte Gespräche aufnehmen. Die ersten seit zwei Jahren.

Schuld ist immer der andere

Davor hatte es immer wieder vergebliche Anläufe gegeben, die Teilung der Insel auf dem Verhandlungsweg zu überwinden. Sie scheiterten allesamt, und Schuld war selbstverständlich immer die andere Seite. So wie vor 25 Jahren, als türkische Truppen den Nordteil der Insel am 20. Juli 1974 besetzten. Fünf Tage zuvor hatte die zypriotische Nationalgarde im Auftrag der Athener Militärjunta gegen den gewählten Präsidenten, Erzbischof Makarios, geputscht. Dass Ankara als Garantiemacht Zyperns nach dem Putsch der Nationalgarde eingriff, mochte noch angehen. Dass dieses Eingreifen in eine lupenreine Invasion mündete, infolge derer 36,4 Prozent der Insel besetzt und 200.000 griechische Zyprioten vertrieben wurden, hat die internationale Völkergemeinschaft zwar hingenommen, aber nie akzeptiert.

Makarios, der im Präsidentenamt von einem Befürworter der Vereinigung mit Griechenland (Enosis) zu einem Verfechter zypriotischer Eigenständigkeit geworden war, lavierte vor dem Putsch nicht nur zwischen den Lagern des Kalten Krieges, sondern auch zwischen türkischen und griechischen Nationalisten. Seine Stärke war die Balance, und genau die ging verloren, als im April 1967 eine faschistische Militärjunta in Athen putschte und den zypriotischen Präsidenten systematisch unter Enosis-Druck setzte.

Am Ende stand Makarios ohne Bundesgenossen da. Das Vertrauen der türkischen Bevölkerung Zyperns hatte der Erzbischof nie erringen können. Für sie blieb der Präsident in erster Linie ein Anwalt der Inselgriechen oder schlimmer noch: ein Werkzeug Athens. Weil er genau das aber nicht sein wollte, verlor der Erzbischof auch in der eigenen Volksgruppe an Unterstützung.

Auch aus dem Ausland erfuhr Makarios keine Hilfe. Von den drei Garantiemächten Zyperns waren zwei - Griechenland und die Türkei - aktiv daran beteiligt, die Unabhängigkeit der Inselrepublik zu liquidieren. Die dritte, Großbritannien, verhielt sich völlig passiv. Und bei den Supermächten blieb man peinlich darauf bedacht, dass der Konflikt um die Mittelmeerinsel ihr Gleichgewicht nicht störte. Moskau - von Makarios in den sechziger Jahren umworben - zeigte sich verärgert, weil der kurz zuvor China einen Besuch abgestattet hatte. Und Washington war mehr als froh, den "roten Mönch" in Not zu sehen. Abgesehen davon, steckte die vom Vietnam-Syndrom gezeichnete Nixon-Administra tion bis zum Hals in der Watergate-Affäre.

Stabiler Störfaktor

Der Zypernkonflikt erschien nach der Teilung vor allem als Störfaktor, nicht zuletzt innerhalb der NATO. Den USA gelang es oft nur mit Mühe, die griechisch-türkischen Spannungen zu beherrschen. Und im Zweifelsfall schlug sich Washington auf die Seite Ankaras. Mit seinen direkten Grenzen zur Sowjetunion, Iran, Irak und Syrien war der türkische NATO-Verbündete strategisch weitaus wichtiger als Griechenland. Von der militärischen Schlagkraft ganz zu schweigen. Es gab kein wirkliches Interesse, am Status quo auf Zypern zu rühren. Derweil entwickelten sich die Inselteile auseinander - menschlich, politisch und wirtschaftlich.

Vor der Invasion gehörte der zypriotische Norden zu den wohlhabenderen Gebieten Zyperns. Heute hängt die Denktasch-Republik fast vollständig am Tropf Ankaras. Die Hälfte des Staatshaushaltes, fast alle großen Investitionen und nicht wenige der inzwischen 200.000 Inseltürken stammen aus dem Mutterland, dessen wirtschaftliche Probleme auch auf den Norden Zyperns durchschlagen. Hinzu kommt ein Wirtschaftsembargo, das nicht eine Orange aus Nordzypern auf dem europäischen Binnenmarkt landen lässt.

Viele türkische Zyprioten haben deshalb ihre Heimat verlassen. Statt ihrer siedelte Ankara anatolische Bauern auf Nordzypern an. Dieser Bevölkerungsaustausch wird inzwischen nicht nur im griechischen Teil mit Sorge betrachtet. Viele türkische Zyprioten können mit ihren Brüdern und Schwestern aus dem Mutterland wenig anfangen und entdecken so ihre zypriotische Identität neu.

Der griechische Teil Zyperns hingegen pflegt nicht nur intensive Beziehungen mit Athen, sondern darüber hinaus auch mit der Europäischen Union. Seit 1972 existiert ein Assoziierungsabkommen, dessen Umsetzung durch die Teilung zwar verzögert, aber nicht gestoppt wurde. Im Gegenteil. Am 3. Juni 1990 stellte Zypern den Antrag auf Vollmitgliedschaft, und seit März vergangenen Jahres wird konkret verhandelt. Wirtschaftlich ist der EU-Beitritt für die Inselgriechen kein Problem, selbst dann nicht, wenn man den ökonomisch schwächeren Nordteil hinzurechnet. Mit Wachstumsraten von fünf, einer Inflationsrate von 3,6, einem Staatsdefizit von 2,8 Prozent und einer Bruttostaatsverschuldung von 53 Prozent wäre Zypern sogar ein ernsthafter Euro-Kandidat.

Das Problem ist ausschließlich politischer Natur. Die europäische Dimension hat den Zypernkonflikt noch komplexer werden lassen, als er ohnehin schon war. Gleichzeitig kann aber genau darin der Schlüssel zur Lösung liegen.

Europäische Lösung

Kaum hatte Zypern 1990 seinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft gestellt, verwarf Rauf Denktasch die Föderationsidee als Geschäftsgrundlage der bilateralen Gespräche und drängt seitdem auf eine Zwei-Staaten-Lösung - für viele eine Vorstufe zur Vereinigung mit der Türkei (Taxim). In Europa verspürte man daher lange Zeit wenig Lust, sich des Zypernproblems ernsthaft anzunehmen. Noch 1993 band die EU-Kommission ihr Votum an politische Fortschritte auf der Insel. Doch ein Jahr später beim EU-Gipfel im griechischen Korfu änderte sich plötzlich die Lesart, weil Athen sein Ja zur Osterweiterung von EU und NATO an eine Aufnahme Zyperns band.

Seitdem steckt die EU in einem Dilemma: Verweigert sie der geteilten Insel die Aufnahme, droht die ganze Osterweiterung am griechischen Veto zu scheitern. Nimmt sie die Inselrepublik wie beschlossen auf, könnte dies die Teilung eher zementieren als überwinden helfen. Und selbst wenn es zu einer Lösung auf Zypern käme: Wie könnten die Inseltürken der EU-Aufnahme zustimmen, solange Ankara in Europa außen vor ist?

So entpuppt sich die Zypernfrage durch die europäische Hintertür erneut als Teil des übergreifenden türkisch-griechischen Konflikts. Der Streit um Gebietsansprüche in der Ägäis, um Minderheitenrechte und strategische Balance (siehe Kasten) konnte während des Kalten Krieges erfolgreich gedeckelt werden. Dennoch standen die NATO-"Partner" mehrfach am Rande einer militärischen Konfrontation, zuletzt im Winter 1995/96, als ein türkischer Frachter vor der griechischen Insel Imia auf Grund lief und sich daraus ein Streit um die ostägäische Dodekanes-Inselgruppe entzündete.

Nachdem der griechisch-türkische Konflikt von den disziplinierenden Fesseln des Kalten Krieges befreit war, versuchten sich vor allem die USA verstärkt um einen Interessenausgleich. Doch wann immer es soweit schien - wie Anfang der neunziger Jahre, als ein Nichtangriffspakt praktisch unterschriftsreif vorlag: Die Hürde Zypern blieb und verhinderte jeden Durchbruch.

Dieses Jahr nun sollten zwei Erdstöße vollbringen, was die Diplomatie über Jahre nicht geschafft hatte. Als am 17. August in Istanbul die Erde bebte, eilten griechische Spezialisten den Opfern zur Hilfe. Drei Wochen später dann das umgekehrte Bild: Türkische Hilfskräfte gruben in Athen nach Überlebenden. Wenige Tage danach erklärte Außenminister Georgios Papandreou der verdutzten Weltpresse, dass man den Beitrittswunsch der Türkei zur EU unterstützen, gar Ankaras "Zugpferd" werden wolle.

Dieser Sinneswandel ist ganz sicher nicht nur seismographischen Ursprungs. Die wechselseitige Erdbebenhilfe hat ein öffentliches Klima geschaffen, das strategische Paradigmenwechsel leichter macht. Denn: Je deutlicher sich europäische Konfliktlinien von der alten Ost-West-Achse auf den Balkan und in die "europäischen Randzonen" Zentralasiens und an den Persischen Golf verlagern, desto schneller muss der türkisch-griechische Konflikt gelöst werden, weil sonst die Handlungsfähigkeit des Westens in diesen Regionen erheblich eingeschränkt bleibt.

Davor aber steht die Hürde Zypern. Um die zu nehmen, muss vor allem Ankara sich bewegen. Deshalb der ungewohnte Druck auf Ecevit während seines USA-Besuches im Oktober. Deshalb auch der neue Kurs Wa shingtons gegenüber Athen. Erst musste Clinton seinen Besuch in Griechenland um eine Woche verschieben, dann erwarteten ihn angesagte Proteste. Der Präsident nahm es gelassen, schlug sich im Ägäis-Konflikt auf die Seite Athens und gab die erste offizielle - mehr als überfällige - Entschuldigung für die amerikanische Unterstützung der Militärjunta ab. So viel Schönwetter war lange nicht, und die Botschaft ist klar: Vertragt Euch endlich!

An realistischen Lösungsvorschlägen mangelt es nicht. Zyperns Zukunft liegt in einer Föderation zweier Bundesstaaten mit schwacher Zentralregierung, einem Oberhaus, das paritätisch besetzt ist und einem Unterhaus, in dem sich die demographischen Verhältnisse auf der Insel spiegeln. Der Präsident könnte nach südafrikanischem Vorbild ohne Proporz direkt gewählt werden. Sein Vize käme automatisch aus der anderen Volksgruppe.

Wirklich schwierig wäre nur die Rückgabe von etwa elf Prozent des 1974 besetzten Territoriums an die Inselgriechen, um so dem realen Bevölkerungsproporz gerecht zu werden. Ein solcher Gebietsaustausch könnte jedoch nach dem Prinzip "Land für Macht" erfolgen, verbunden mit der Zusicherung eingeschränkter Bewegungsfreiheit zwischen beiden Bundesstaaten, um den türkischen Zyprioten die Angst vor einer Majorisierung durch die zahlenmäßig und wirtschaftlich überlegenen Inselgriechen zu nehmen.

Als Sicherheitsgaranten hat US-Präsident Clinton kürzlich die NATO ins Gespräch gebracht. Dies muss nicht der Weisheit letzter Schluß sein, unterstreicht aber, dass die äußeren Bedingungen für einen Mauerfall auf Zypern lange nicht so gut waren wie im Augenblick.

DER ZYPERN-KONFLIKT

1571-1878: Zypern unter osmanischer Herrschaft.

1925: Zypern wird britische Kronkolonie und Militärstützpunkt.

1960: Unabhängigkeit als bikommunale Republik mit Griechenland, der Türkei und Großbritannien als Garantiemächten. Erzbischof Makarios wird erster Präsident.

1964: UN-Intervention nach bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen zwischen griechischen und türkischen Nationalisten.

1967: Militärputsch in Griechenland.

15. 7. 1974: Putsch der Junta-freundlichen Nationalgarde Zyperns gegen Makarios, der ins Ausland flieht.

20. 7. 1974: Türkische Invasion auf Zypern.

7.12. 1974: Rückkehr Makarios'.

13. 2. 1975: Ausrufung eines türkisch-zypriotischen Teilstaates im besetzten Nordteil der Insel.

1977: Tod von Makarios.

1983: Gründung der Türkischen Republik Nordzypern, die nur von Ankara anerkannt wird.

1990: Antrag Zyperns auf Vollmitgliedschaft in der EU.

1994: Nominierung Zyperns für die erste Runde der EU-Erweiterung.

1997: Zypern kauft russische Flugabwehr-Raketen. Die Türkei droht mit Krieg, wenn diese stationiert werden.

1998: Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und Zypern beginnen. Die russischen Raketen sollen auf Kreta stationiert werden.

1999: Tauwetter in den griechisch-türkischen Beziehungen nach den schweren Erdbeben in Istanbul (August) und Athen (September). Griechenland gibt seinen Widerstand gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei auf. Denktasch und Klerides wollen sich ab 3. Dezember zu indirekten Gesprächen in New York treffen. Auf dem Helsinkier EU-Gipfel soll die Türkei als Beitrittskandidat aufgenommen werden.

ANKARA VERSUS ATHEN

Seerechte in der Ägäis

Hintergrund sind Fischereirechte und Ölfunde in der Ägäis. Die Seerechtskonvention von 1985 erweiterte die nationalen Hoheitsgewässer von sechs auf zwölf Meilen. Das verwandelt die Ägäis de facto in ein griechisches Meer und belässt der Türkei nur einen schmalen Küstenstreifen. Seit 1995 betrachtet die Türkei die Ausdehnung der griechischen Hoheitsgewässer als casus belli. Ankara hat die 1985er Konvention nicht unterschrieben, wendet sie aber im Schwarzen Meer und Mittelmeer selbst an.

Lufthoheit

1974 erklärte Ankara, eine ansonsten unstrittige griechische Zehn-Meilen-Luftraumzone für seine militärischen Flugzeuge nicht mehr anzuerkennen. Daraufhin ließ Athen mitteilen, die Sicherheit der zivilen Luftfahrt über der Ägäis nicht mehr kontrollieren zu können. Da dies vor allem der türkischen Tourismusindustrie schadete, hob man die Nichtanerkennungspolitik 1980 wieder auf. Seither gibt es immer wieder Luftraumverletzungen durch türkische Kampfjets. Der Streit belastet vor allem die NATO, deren 6. und 7. taktische Luftstaffel in Izmir beziehungsweise Larissa stationiert sind.

Demilitarisierung

Die Türkei fordert den Abbau von Militäranlagen auf griechischen Inseln in der östlichen Ägäis (Lemnos, Samothraki). Die Vertragslage ist umstritten. Das militärische Kräfteverhältnis zwischen Ankara und Athen entspricht 5:1. Deshalb müsste ein solcher Abbau mit einer harschen Demilitarisierung der türkischen Küstenregion einher gehen. Das aber widerspricht den strategischen Intentionen der USA, die in Izmir einen wichtigen Militärstützpunkt unterhalten und an der türkischen Küste AWACS-Aufklärungsflugzeuge stationiert haben, mit deren Hilfe Washington die Nahost- und Golfregion kontrolliert.

Minderheiten

Im Zuge des Lausanner Vertrages von 1923 fand eine Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland xund der Türkei statt. 1,1 Millionen Christen zogen nach Griechenland und 380.000 Muslime in die Türkei. In der griechischen Provinz Thrakien verblieb eine türkische Minderheit von heute 120.000 Menschen, die von Athen lange Zeit nicht als solche anerkannt wurde. Umgekehrt lebt in Istanbul eine kleine griechisch-orthodoxe Gemeinde, die Pogromen (1955) und Repressalien ausgesetzt war.

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