In welch schweres Fahrwasser der Nordatlantikpakt durch seinen globalen Interventionsanspruch, vor allem aber die Präsenz in Afghanistan geraten ist, zeigen die sicherheitspolitischen Ungereimtheiten und Widersprüche, mit denen die Allianz im Vorfeld ihres 60. Geburtstages am 4. April zu kämpfen hat. Die Anschläge vom 11. September 2001 haben zum ersten und bisher einzigen Mal in der Geschichte der NATO den Bündnisfall ausgelöst, der die Mitgliedsstaaten zum gegenseitigen Beistand verpflichtet. Dieser Bündnisfall dauert bis heute an. Wann und wie er beendet wird, darüber steht in den Statuten nichts. Ein absurder Zustand, der deutlich macht, dass die NATO für diese Art von asymmetrischer Kriegführung gegen nicht-staatliche Kombattanten schl
chlecht gerüstet ist.Mehr zum Thema:Wie sich NATO-Kritiker und Polizei auf den Jubiläumsgipfel in Straßburg vorbereitenKein Wunder, denn konzipiert waren Bündnis und Bündnisfall zur Verteidigung gegen einen Angriff der Sowjetunion und ihrer Partner. Als sich deren Militärkoalition 1990/91 friedlich auflöste, stand auch der Nordatlantikpakt zur Disposition. Auf diese Existenzfrage hat die NATO in den letzten zwei Jahrzehnten nur eine Antwort gefunden: Expansion. Die Allianz ist größer geworden, sie hat neue sicherheitspolitische Aufgaben übernommen und ihr Operationsgebiet auf den gesamten Globus ausgedehnt. Dieser Prozess lässt sich als hegemoniale Anmaßung beschreiben – und als Reaktion auf neue sicherheitspolitische Herausforderungen. Beides stimmt.Halb zog sie ihn, halb sank er hinDie NATO-Osterweiterung war keine friedliche Eroberung von ehemaligem Feindesland, sondern traf auf sicherheitspolitische Bedürfnisse, Ängste und Interessen in den beitrittswilligen mittelosteuropäischen Staaten – halb zog sie ihn, halb sank er hin. Aus Sicht der Beitrittsländer stellte die NATO-Aufnahme eine von mehreren Eintrittskarten in die westliche Demokratie- und Wohlstandsgemeinschaft dar. Zudem war dieses Ticket eine – angesichts historisch gewachsener Ressentiments – unerlässliche Versicherung gegen Russland, und diente zugleich dem Schutz der Mitgliedsländer voreinander.Die NATO hat so ihre Einflusssphäre ausgedehnt, dabei aber auch an Kohärenz verloren und sich eine Reihe neuer Probleme eingehandelt, die ihr bis heute zu schaffen machen. Das Verhältnis zu Moskau sorgt inzwischen für eine Art Ost-West-Konflikt in der Allianz. An den Fragen, ob Sicherheit eher gegen oder mit Russland möglich ist, ob ehemalige Sowjetrepubliken NATO-Mitglieder werden sollten und ob Abrüstung und Rüstungskontrolle mehr Sicherheit versprechen oder gefährliche Abhängigkeiten erzeugen, scheiden sich die Geister zwischen neuen und alten NATO-Mitgliedern. Und weil die Antworten im Bündnis letztendlich davon abhängen, auf welche Seite sich Washington schlägt, darf man die bisherige NATO-Osterweiterung – ungeachtet aller gegenläufigen Prozesse innerhalb der EU – durchaus als Bärendienst am europäischen Einigungsprozess begreifen. Als Bush und Rumsfeld (seinerzeit US-Verteidigungsminister) kurz vor dem Irak-Krieg zwischen dem „alten“ und „neuen“ Europa zu unterscheiden begannen, war dieses Schisma auf den Punkt gebracht.Neue Ausrichtung, neues KräfteverhältnisParallel zur Osterweiterung stand die NATO nach dem Kalten Krieg vor der vom republikanischen US-Senator Richard Lugar 1993 prägnant formulierten Herausforderung, ihren Aktionsradius zu erweitern oder zu verschwinden: Out of area or out of business! Der rationale Kern des Verlangens, über die Grenzen der bisherigen Bündnisdoktrin hinauszugehen, ergab sich aus neuen, globalen Bedrohungen. Freilich stellte sich damit sofort die Frage, ob die NATO das geeignete Instrument sein konnte, diesen Herausforderungen adäquat zu begegnen. Die Antwort lautet: Allein und in der derzeitigen Verfassung ganz sicher nicht. Als Allianz, deren ISAF-Korps in Afghanistan für die Kollateralschäden der amerikanischen Terroristenjagd in Mithaftung genommen und die im Irak von einer Koalition der Willigen ersetzt wird, hätte die NATO ausgedient.Sie wird daher, um als Bündnis überleben zu können, ihre strategische Ausrichtung und innere Kräftebalance neu justieren müssen. Zwar bleiben die USA als militärisch stärkste Macht ein Primus inter pares, der sich weiter Alleingänge vorbehält. Diese Option wird auch ein Präsident Obama nicht aufgeben können und wollen. Allerdings dürfte Washington künftig kollektiver und politischer an Konflikte herangehen. Die NATO selbst könnte damit europäischer werden. Nicht allein, weil sich der Stellenwert (des „alten“) Europas mit der vollen Re-Integration Frankreichs erhöht. Sondern vorrangig dann, wenn die EU mit einem von deutscher Seite vorgetragenen Konzept der „vernetzten Sicherheit“ innerhalb des transatlantischen Bündnisses mehr Gewicht erhält. Der Begriff reflektiert das Zusammenspiel ziviler – politischer, diplomatischer, finanzieller, kultureller und polizeilicher – Instrumente der Konfliktprävention und -bewältigung mit militärischen Maßnahmen. Dazu müsste die NATO viel stärker als in der Vergangenheit zum Ort einer umfassenden sicherheitspolitischen Verständigung werden. Andernfalls bliebe der ganzheitliche Ansatz, mit dem man sich Konflikten nähert, bloße Behauptung. Und vernetzte Sicherheit wäre nichts weiter als eine Konterkarrierung ziviler Konfliktregulierung durch militärische Gewalt wie derzeit in Afghanistan.Kritiker sehen das Konzept vernetzter Sicherheit daher auch als Trojanisches Pferd zur forcierten Militarisierung von Institutionen wie der EU oder der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Sie werden recht behalten, sollte vernetzte Sicherheit allein unter einer Dominanz des Militärischen entwickelt werden.Gleichwohl ist das Ansinnen, den Konflikten und Bedrohungen in einer globalisierten Welt mit einem umfassenden Instrumentarium zu begegnen, zu dem als ultima ratio auch militärische Mittel gehören, nachvollziehbar. Offen bleibt, ob sich die NATO in solch ein System vernetzter Sicherheit einbinden und integrieren lässt. Den Versuch ist es wert, zumal die Allianz in ihrem 60. Jahr nicht vorhat, in Rente zu gehen, sondern nach einem zeitgemäßen Grundkonsens suchen wird, der nach den seit 1990 gesammelten Erfahrungen deutlich politischer und kooperativer sein muss.