Auf Bundeskanzler Schröder wartete bei seinem Antrittsbesuch in Washington ein Balanceakt der besonderen Art. Er musste sich zu einem rüstungspolitischen Lieblingsprojekt der neuen Bush-Administration verhalten, gegen das Rotgrün bis vor kurzem noch schweres Geschütz auffahren ließ: Die National Missile Defense (NMD). Seit Jahren hängt das amerikanische Raketenabwehrprojekt wie ein Damoklesschwert über den transatlantischen Beziehungen und löst bei militär-strategischen Planern in Moskau, Beijing und Delhi sorgenvolle Reaktionen aus.
Raketenabwehrpläne haben in den USA seit 1950 Konjunktur. Mehr als 100 Milliarden Dollar flossen bisher in sechs verschiedene Programme, die allesamt eines gemeinsam hatten: Sie sind gründlich gescheitert. Warum man ausgerechnet in Amerika solchen Plänen verfällt, ist leicht zu verstehen. Gäbe es keine Interkontinentalraketen wären die USA militärisch nahezu unverwundbar. Und wer das ist, kann sich viel erlauben. Dieser Verdacht bleibt, und er ist - in die Kategorien von global power projection übersetzt - auch nicht falsch. Washington zeigt als weltpolitische Ordnungsmacht seit dem Ende des Kalten Krieges immer weniger Neigung, sich international verbindlichen Zwängen und Regeln unterordnen zu wollen, wenn nationale Interessen berührt sind.
Es liegt in der Logik dieser Politik, sich vor militärischen Gegenreaktionen schützen zu wollen. Genau dafür wurde die Idee einer Nationalen Raketenabwehr konzipiert. Anders als Reagans Sternenkriegspläne SDI basiert NMD jedoch nicht auf dem Siegfriedmythos der "Unverwundbarkeit" gegenüber massiven Raketenschlägen, sondern soll lediglich vereinzelte, zufällig oder in terroristischer Absicht abgefeuerte ballistische Flugkörper unschädlich machen können.
Das entspricht durchaus gängigen Bedrohungsszenarien von Massenvernichtungswaffen in den Händen unberechenbarer Diktatoren. Noch ist diese Gefahr hypothetischer Natur, doch in wenigen Jahren kann daraus bitterer Ernst werden. Proliferation ist kein Hirngespinst der Rüstungslobby. Dass sie durch mangelnden Abrüstungswillen und durch die Aufrechterhaltung der militärischen Abschreckungslogik de facto befördert wird, ist eine Seite der Medaille. Die andere besteht in der Frage, ob jeder "Schurkenstaat", der nach ABC-Waffen und Trägersystemen strebt, auch bereit ist, diese einzusetzen. Washington geht davon aus. Die Europäer dagegen haben bis dato auf Diplomatie und Selbsterhaltungstrieb gesetzt.
Moskaus Offensive
Dieser europäische Konsens bröckelt, seitdem die Bush-Administration klar gemacht hat: NMD kommt auf jeden Fall. Das "Ob" ist entschieden, zur Debatte stehen nur noch "Wann" und "Wie". Damit aber sind die ideologischen Begründungen für NMD nicht mehr diskutabel. Die Amerikaner - so unisono Scharping und Fischer nach ihren Sondierungsgesprächen vor dem Schröderbesuch - hätten den Willen, die Macht und die Ressourcen, ihr Territorium durch eine nationale Raketenabwehr zu schützen. Gegen diesen überparteilichen Konsens sei eine europäische Verweigerungshaltung ebenso aussichtslos wie kontraproduktiv. Vielmehr käme es jetzt darauf an, mit Washington in einen Dialog zu treten, damit Abrüstung und Rüstungskontrolle über NMD keinen Schaden nähmen - und die Europäer sich nicht unvermittelt in einer transatlantischen Allianz mit Zonen unterschiedlicher Sicherheit wiederfänden.
Ganz ähnlich hatte zuvor Präsident Putin reagiert, als er Russlands Totalverweigerung gegenüber NMD in ein Kooperationsangebot umwandelte, das dem britischen NATO-Generalsekretär Robertson für Tage die Sprache verschlug. Statt einer "asymmetrischen Antwort", die darin bestehen sollte, den amerikanischen Raketenschirm zu unterlaufen, bot Moskau den Europäern plötzlich Flugabwehrraketen vom Typ S-300 an, um Westeuropa vor eventuellen Überfällen aus Irak oder Libyen zu schützen. Das relativ billige, sehr mobile und effektive - allerdings nicht kampferprobte - System ließe sich schnell und leicht am Rande von Risikozonen dislozieren. Außerdem verstießen diese taktischen Waffen nicht gegen den ABM-Vertrag, der nur eine sehr begrenzte Abwehr strategischer Atomwaffen erlaubt, um so die konfliktzügelnde Logik der garantierten gegenseitigen Vernichtung aufrechtzuerhalten.
Berlins Illusionen
Putin hatte einen wunden Punkt getroffen. Wenn es für Europa eine Bedrohung gibt, dann weniger durch strategische Interkontinentalraketen als vielmehr durch taktische Mittelstreckenwaffen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Das politische Ziel Moskaus, einen Keil zwischen die transatlantischen Bündnispartner zu treiben, war leicht zu erkennen. Washington reagierte prompt, ließ das "N" in der Versenkung verschwinden und spricht seither nur noch von Missile Defense. Damit ist das Thema einer nationalen Raketenabwehr für die USA - inklusive der Aufkündigung des ABM-Vertrages - jedoch keineswegs vom Tisch. NMD soll jetzt lediglich ergänzt werden durch eine auf Europa zugeschnittene taktische Raketenabwehr. Das Ganze hieße dann AMD - Allied Missile Defense und könnte - auf den Alten Kontinent bezogen - durchaus in Kooperation mit Russland erfolgen.
Dieser Konjunktiv und das Angebot Washingtons, im Zuge von NMD seine nuklearen Offensivpotenziale drastischer zu senken als es die START-Vereinbarungen mit Russland bisher vorsehen (siehe Kasten), beschreibt den politische Spielraum. Schröders Argument von "Technologieschub" durch eine deutsche und europäische Beteiligung an den amerikanischen Raketenabwehrplänen dürfte sich jedoch als Illusion erweisen. Zum einen, weil es sich bei NMD/AMD - im Gegensatz zu SDI - um konventionelle Technologie handelt, deren spin-off-Effekte relativ gering sind. Zum anderen lehrt alle bisherige Erfahrung, dass die USA wenig Neigung zum Technologietransfer zeigen. Das musste schon Helmut Kohl bei SDI erfahren. Und das wird auch Gerhard Schröder - ungeachtet amerikanischer Absichtserklärungen und veränderter Beschlusslage in der NATO - kaum anders ergehen. Die frustrierenden Erfahrungen der deutschen und italienischen Seite mit aggressiver amerikanischer Technologiekontrolle bei der "gemeinsamen" Entwicklung des Luftabwehrsystems MEADS sind dem Kanzleramt jedenfalls durchaus geläufig.
NMD oder AMD - mit oder gegen Russland? So wichtig diese Frage für die künftige Sicherheitsarchitektur zwischen Vancouver und Wladiwostok ist: Der globale Sprengsatz beider Konzeptionen liegt in Asien. Ideologisch hat die Bush-Administration entsprechende Duftmarken längst gesetzt. Schon während des Wahlkampfes sah sich Peking durch die neue Administration vom "strategischen Partner" (Clinton) zum "strategischen Konkurrenten" (Bush) degradiert. Kaum im Weißen Haus angekommen, vollzog der Texaner auch die Wende in der amerikanischen Korea-Politik und legte die Sunshine-Politik des südkoreanischen Präsidenten Kim Dae Jung gegenüber dem nordkoreanischen Nachbarn - ungeachtet der vorsichtigen Lockerungsübungen Pjöngjangs - auf Eis.
Pekings Alptraum
Ganz ohne Schurken geht es eben nicht. Auch wenn die nur vorgeschoben sind. Denn natürlich richten sich sowohl NMD als auch dessen asiatische Variante - ein taktisches Raketenwehrsystem in Korea, Japan und Taiwan (sic!) - weniger gegen Nordkorea als vielmehr gegen China. Pekings zwei Dutzend Interkontinentalraketen würden durch den nationalen amerikanischen Raketenschirm faktisch wertlos. Ein Nach- und Umrüstungswettlauf, dem sich dann auch Indien nicht entziehen könnte, wäre die Folge.
Noch dramatischer aber sähe die Lage um Taiwan aus. Taipeh hat in den USA vier Zerstörer zum Stückpreis von einer Milliarde Dollar bestellt, die mit dem Raketenabwehrsystem Aegis ausgestattet werden sollen. China jedoch betrachtet den Inselstaat nach wie vor als Teil der Volksrepublik. Sollte sich Taiwan zur Stationierung derartiger Waffen entschließen, käme das - aus chinesischer Sicht - einer Einmischung in "innere Angelegenheiten" gleich. Derart "unverwundbar", könnte der nächste Schritt die offizielle Unabhängigkeitserklärung Taipehs sein. Für diesen Fall droht Peking mit Krieg.
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