Ein Kind ist tot. Das Mädchen wurde missbraucht und erwürgt. Der Täter läuft frei herum. Das Land dreht durch, und Politiker kochen auf der Flamme öffentlicher Trauer und Wut ihr Süppchen. Ein Vorgang, der rundherum Ekel erregt. Wer Kinder hat, ahnt vielleicht, was in den Eltern der Ermordeten vorgeht. Was in ihnen vorgegangen sein muss, als die Medien kein anderes Thema mehr zu kennen schienen als das Schicksal der zwölfjährigen Ulrike aus Eberswalde. Die Familie, das Umfeld, die Schule, die Stadt - öffentlich ausgeleuchtet bis in den letzten Winkel. Die Journaille, dein Freund und Helfer, unser Mitgefühl in Millionenauflage und jetzt: der lange Arm des Volkszorns.
Dass eine Gesellschaft Anteil nimmt, wenn es um das Schicksal eines Kindes geht, sollte eigentlich ein gutes Zeichen sein. Kinder sind Schutzbefohlene, dieses Tabu ist - so scheint es jedenfalls - intakt. Einmal hinter Gittern, werden Kinderschänder von anderen Schwerstkriminellen oft wie Aussätzige be- und nicht selten misshandelt. Doch abgesehen davon, dass viele der Täter nicht ins Gefängnis, sondern in Behandlung gehören: Wenn der "gewöhnliche" Mörder den Kinderschänder drangsaliert, will er vor allem sein Verbrechen relativieren. Es geht nicht um das Kind als Opfer, sondern ums eigene Ego.
Das sieht draußen leider nicht anders aus. Volkes Seele ist erregt, und das völlig zu Recht. Unter der Hand jedoch wird dieser eine öffentliche Aufschrei zur Kompensation für hundertmal Schweigen, Wegsehen und Nicht-Wahr-Haben-Wollen. Das nimmt dem Entsetzen nicht seine individuelle Wahrhaftigkeit. Die Plüschtiere und Blumen an der Stelle, wo das tote Mädchen gefunden wurde, sind sehr ehrliche Zeichen von Betroffenheit und Trauer. Mit der medialen Überfütterung durch solche Bilder aber beginnen Verdrängung und Instrumentalisierung. Der Tod des Mädchens wird zum Medienereignis, das eine Gemeinschaft eint (und einen soll), die im täglichen Leben zwischen New Economy, sozialer Ausgrenzung, Ellenbogenmentalität und individualisierter Spaßgesellschaft immer weniger Bindungskraft entwickeln kann.
In England müssen aus Gründen des schwindenden Zusammengehörigkeitsgefühls wichtige Sportereignisse per Gesetz im Free-TV ausgestrahlt werden. Gemeinschaft soll erlebbar gemacht werden, wenigstens für einen Augenblick. Das Medienevent "Ulrike" mit anschließender Täterjagd hat - wenngleich nicht von politischen, sondern Marktgesetzen gesteuert - dasselbe Ziel. Kein Wunder, wenn in dieser Situation alles möglich zu sein scheint - von der Wiedereinführung der Todesstrafe bis zum präventiven Zwangsspeicheltest für alle Männer. Schließlich steckt, rein biologisch, in jedem von uns ein potenzieller Vergewaltiger und Kinderschänder. Und dass Männer Schweine sind, ist seit Jahren auf jeder Schuldisco zu hören.
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