Kassel als Zäsur

Radikalisierung der Mitte Über die neueste Allianz von Bürgertum und der Extremen Rechten

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Kassel als Zäsur

Foto: Armando Babani/AFP/Getty Images

Am 20. März 2021 demonstrierten in Kassel etwa 20.000 Menschen gegen die Coronapolitik der Bundesregierung. Trotz Missachtung der Auflagen und Angriffen auf Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen wurde der Initiative Querdenken erneut von der Polizei eine Stadt überlassen. Die Empörung darüber ist groß. Aber das Problem könnte noch viel größer werden, denn über das Corona-Thema schafft es die Extreme Rechte, in ein Milieu hinein zu mobilisieren, das ihr vormals verschlossen war – und dieses radikalisiert sich zunehmend.

Das Video dauert gerade mal 27 Sekunden und zeigt zu Beginn drei Personen. Links eine Frau mit Henna-roten Haaren und buntem Rock über der Hose, so wie man sie in Gemeinschaftsgärten und Bioläden trifft. Neben ihr geht in diesem Moment ein weißhaariger Mann in blauer Outdoorjacke rückwärts zu Boden. Er trägt eine Binde am Arm mit den Farben Schwarz, Rot und Gold, überraschenderweise aber auch einen Mundnasenschutz im Gesicht. Rechts daneben läuft ein junges, orientierungsloses Mädchen mit Dreadlocks und Flickenjacke. Um sie herum rennen gepanzerte Polizistinnen und Polizisten auf die Menge zu und können diese nur mühsam zurückdrängen. Die ersten Teilnehmer:innen der Querdenker-Demonstration sind schon durch die Blockade gebrochen, als Pfefferspray, Schlagstock und schließlich auch ein paar Spritzer aus dem Wasserwerfer zum Einsatz kommen. Das Menschenknäuel offenbart auf den ersten, schnellen Blick Leute, die in keiner deutschen Innenstadt auffallen würden: ein älterer Mann im braunen Mantel etwa oder eine Frau in grau, die ihr Gesicht im Arm vergräbt. Eine andere Frau hat die Kapuze ihrer weißen Jacke hochgezogen und marschiert blind nach vorne, bis ein Polizist sie zurück reißt und in die andere Richtung zerrt. Auf den zweiten Blick erkennt man im Video – wenn man es anhält oder in Zeitlupe laufen lässt – weitere Gestalten: Männer in schwarzer Funktionskleidung, die die Polizeiketten zielgerichtet auseinander drängen.

Wer hin und wieder auf linke Demos geht und mal erlebt hat, was die Polizei zu leisten in der Lage ist, wenn sie das Ziel hat, eine Versammlung aufzulösen, kann angesichts dieses Einsatzes von Zwangsmitteln nur müde gähnen. Entsprechend lesen sich auch einige Kommentare unter dem Video: „Da muss ein Linker in der Menge gewesen sein. Anders lässt sich diese Reaktion der Polizei nicht erklären!“ Kommentare verweisen auf linke Demos, die nur im hochgerüsteten Polizeispalier laufen durften und auf brutale Räumungen im Dannenröder Wald. Keine Frage, der Frust vieler linker Beobachter:innen ist angesichts der Bilder aus Kassel groß. Abermals wurde einer Querdenker-Demo der Raum gegeben – trotz Nichtbeachtung der Auflagen, trotz Angriffen auf Journalist:innen und Gegendemonstrant:innen. Das Einsatzkonzept war wieder einmal mies und das Agieren der Cops zwischen Untätigkeit und unverhältnismäßiger Härte gegenüber dem Gegenprotest. So weit, so einig sind sich die Beobachter:innen.

Wir werden gegenwärtig Zeug:innen, wie sich Teile des bürgerlichen Milieus nach rechts außen verabschieden.

Doch was diese Szene außerdem offenbart, ist seltener Teil der Betrachtungen. Wir werden gegenwärtig Zeug:innen, wie sich Teile des bürgerlichen Milieus nach rechts außen verabschieden. Seit etwa einem Jahr demonstriert ein breites Spektrum aus Neonazis, Hooligans, Reichsbürgern, Q-Anon-Anhänger:innen und Neurechten mit politisch bisher unauffälligen Menschen aus bürgerlichen Milieus. War es zu anfangs noch eher ein Nebenher statt ein Miteinander, so hat sich das Verhältnis mittlerweile zu aktiver Zusammenarbeit gewandelt. Zum ersten mal wurde das im vergangenem Herbst in Leipzig deutlich, als demoerfahrene, kampferprobte organisierte Rechte Polizeiketten durchbrachen und damit den Weg freimachten für den Querdenker-Mob, der zunächst über den Ring zog und schließlich in der Innenstadt eine Party feierte. Die Veranstaltung in Leipzig war jedoch stärker geprägt von den Teilen des traditionell eher konservativen sächsischen Bürgertums, das schon 2015 von Pegida abgeholt wurde, nachdem es sich im Zuge der „Flüchtlingskrise“ endgültig von der Merkel-CDU abgewandt hatte. Kassel jedoch – das drei Autostunden von Leipzig und vier von Dresden entfernt liegt – verdeutlicht eine neue Qualität. Die eingangs beschriebenen Personen stehen symbolisch für ein Milieu, das in der Vergangenheit Distanz bis Ablehnung gegenüber der organisierten Extremen Rechten wahrte, inzwischen aber im Rahmen der Mobilisierung gegen die Corona-Politik der Bundesregierung ansprechbar für Zusammenarbeit geworden ist.

Studie zeigt überraschende Ergebnisse zu Teilnehmer:innen

Hinweise auf diese Milieus und ihren ideologischen Zugang zu Querdenken gibt eine Studie der Universität Basel, deren vorläufige Ergebnisse Ende letzten Jahres veröffentlicht wurden. Erste Auswertungen des quantitativen Teils verweisen auf einen recht hohen Anteil von Personen, die typischerweise nicht zum Mobilisierungspotenzial der Extremen Rechten gehören. Die Zustimmungsraten zu feindseligen Einstellungen gegenüber Muslim:innen, Ausländern und Frauen sind im Vergleich zu den Ergebnissen der renommierten Leipziger Autoritarismusstudie unterdurchschnittlich. Niedrige Zustimmung gibt es ebenso zu Elementen des rechtsautoritären Denkens oder der Forderung nach einem „Schlussstrich“ unter die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Befragten ließen dagegen erkennen, dass sie eine hohe Affinität zu anthroposophischen Einstellungen und Verschwörungsdenken haben – wobei interessant ist, dass die Leugnung des Klimawandels hier ausgenommen ist.

Die Studie geht davon aus, dass das Feld der Teilnehmer:innen bei den Querdenker-Demos sehr heterogen ist. Das exakte Ausmaß davon lässt sich in den Zahlen allerdings nur bedingt ablesen. Betont wird, dass die aktuellen Ergebnisse keinen Anspruch auf Repräsentativität der Masse aller Beteiligten erhebt. Dafür gibt es zu viele Faktoren, die dies verhindern. Zum einen findet die Studie beim Antwortverhalten zur Rolle von Antisemitismus Hinweise auf den Faktor der sozialen Erwünschtheit – Teilnehmende gaben überdurchschnittlich an, sich zu enthalten. Zum Anderen gibt es bei solchen Studien die Tendenz dazu, dass vor allem bestimmte Milieus daran teilnehmen, während andere nicht abgebildet sind, etwa weil sie generell sehr stark wissenschaftsfeindlich eingestellt sind oder schlichtweg weder Zeit noch Interesse haben. Nichtsdestotrotz ist die Studie in der Lage, einen Blick auf bestimmte Gruppen in dem heterogenen Feld zu bieten, ohne genau sagen zu können, wie groß ihr Anteil ist oder welche Rolle sie im organisatorischen Ablauf spielen.

Demnach handelt es sich im Schnitt um Menschen, die Mitte 40 sind, sich in der Mittelschicht verorten und eine hohe formale Bildung haben. Gegenüber dem Rest der Bevölkerung sind überdurchschnittlich viele selbstständig. Sie geben an, bei der letzten Wahl Grüne, Linke, AfD sowie „andere“ Parteien gewählt zu haben, und wollen in Zukunft AfD oder „andere“ wählen – darunter vor allem die Partei „Die Basis“, die aus den Querdenken-Protesten entstand.

Bürger:innen und Nazihools durchbrechen Polizeiketten

Wenn man diese Befunde mit dem eingangs beschriebenen Video abgleicht, so ergibt sich das Bild eines gut situierten, vormals eher „alternativen“ Spektrums im Sinne des Post-68ertums geprägten bürgerlichen Milieus mit Hang zu Esoterik und Individualismus. Politische Fragen werden verfolgt, Parteipolitik allerdings als oberflächlich empfunden. Dass dieses Milieu im Vergleich zu anderen von der Politik durchaus gehört wird, ist seinen Angehörigen gar nicht so bewusst. In seinen Interessen Ernst genommen zu werden hält man jedoch für selbstverständlich, denn man ist selbstbewusst und stolz auf „das was man sich aufgebaut hat“. Der Wert der Freiheit wird sehr hoch gehalten. Erfahrungen der direkten Einschränkung dieser durch den Staat wurden in der Vergangenheit eher selten gemacht – das Vertrauen in Polizei und Justiz ist laut Studie vergleichsweise hoch.

Es handelt sich um ein Milieu, das bisher in der Bundesrepublik in stabilen Verhältnissen gelebt hat und diese nun schwinden sieht. Die pandemiebedingten Einschränkungen im Alltag empfinden seine Angehörigen als unverhältnismäßige Zumutung. Und es gibt ja auch ganz reale Belastungen.

Es handelt sich um ein Milieu, das bisher in der Bundesrepublik in stabilen Verhältnissen gelebt hat und diese nun schwinden sieht. Die pandemiebedingten Einschränkungen im Alltag empfinden seine Angehörigen als unverhältnismäßige Zumutung. Und es gibt ja auch ganz reale Belastungen: Kinderbetreuung während des Homeoffice geht auf Dauer an die Substanz, Großeltern im Wohnheim oder im Krankenhaus nicht besuchen zu können ist schmerzlich und Kurzarbeitergeld bedeutet für einige, dass sie ihre Ersparnisse antasten müssen. Vielen Mittelständler:innen geht angesichts des Stillstands und der stockenden Wirtschaftshilfen der Arsch auf Grundeis – oder eben auf Beton so wie im Video aus Kassel.

Man muss sich vergegenwärtigen, dass wir es hier mit einem Milieu zu tun haben, dessen Erwartung an Staat und Politik nicht mehr erfüllt werden. Die bürgerliche Mitte heißt nicht nur Mitte, sondern sie geht auch davon aus, dass sie der Mittelpunkt der Bundesrepublik ist. Laut Studie hat dieses Milieu in der Vergangenheit kaum Protesterfahrungen gesammelt. Wie locker der Knüppel bei manchen Polizist:innen sitzt, ahnen sie nicht einmal. Sie setzen voraus, dass die Staatsmacht die Anständigen beschützen muss. Was für ein Schock muss das für diese Leute sein, wenn ein Polizist sie zu Boden schubst oder pfeffert? Wie sehr muss das politische Koordinatensystem dieser Leute durcheinander gewirbelt worden sein, wenn sie nun in einer Gruppe mit Straßenkämpfernazihools eine Polizeiblockade durchbrechen?

Wie sehr muss das politische Koordinatensystem dieser Leute durcheinander gewirbelt worden sein, wenn sie nun in einer Gruppe mit Straßenkämpfernazihools eine Polizeiblockade durchbrechen?

Ein Teil dieser Leute verabschiedet sich momentan vom Glauben an die Institutionen. Das belegt auch die Studie. Ihre empirischen Daten sind jedoch aus dem letzten Herbst und die Welt hat sich seitdem ein bisschen weiter gedreht.

Radikalisierung in rechter Lebenswelt schreitet voran

Nun ist kritische Distanz gegenüber staatlichen Institutionen überhaupt nichts Schlechtes. Allein, diese Distanz ist kein neutraler Zustand der dann von der einen oder anderen Seite politisiert werden könnte. Von staatlichen Institutionen entkoppeltes bürgerliches Selbstbewusstsein ist nicht per se etwas Gutes, sondern tendiert zum Autoritarismus, wenn es nicht in kollektiver progressiv-solidarischer Selbstorganisation aufgeht.

Im Angesicht von Impfskandalen, Korruption und Planlosigkeit wird das Versagen der Politik immer deutlicher. Die Rechte propagiert dagegen die Verteidigung der alten Ordnung, die Rettung der Bürger gegen außer Rand und Band geratene Parteien, die sich den Staat zur Beute gemacht haben. Diese Deutung kann sich bis zum militanten Vigilantismus steigern.

Die vormals politisch unauffälligen Menschen, die auf den Coronademos ihre ersten Protesterfahrungen gesammelt haben, wurden – vor allem über soziale Medien – von Beginn an in eine rechte Alltagskultur eingebunden, wo sie mit entsprechenden Deutungsangeboten versorgt werden. Darüber hinaus konnten sie in dieser Kultur Selbstwirksamkeitserfahrungen sammeln. Die Spitze des Eisberges ist für außenstehende Beobachter:innen sichtbar, wenn wieder einmal Videoaufnahmen von Redebeiträgen viral gehen, weil sie ein gewisses Maß an Absurdität erreichen („Jana aus Kassel“). Die Querdenker:innen haben es geschafft, das Prinzip des „Do-it-yourself“ für ihre Zwecke auszulegen – und sei es nur durch den mantraartig wieder-holten Appell, „selbst zu denken“. Das zielt auch auf die Identitätsfunktion ab, die für Verschwörungsideologien so entscheidend ist.

Die nun gesammelten Protesterfahrungen wirken auf die Teilnehmer:innen euphorisierend. Nach Kassel tragen sie diese Stimmung zurück nach Hause und berichten auf lokalen Kundgebungen von ihrem Gefühl und ihren Erlebnissen. Sie bestärken und bestätigen sich auf diese Weise gegenseitig. So berichtete auch eine Rednerin in Halle am Montag nach dem Wochenende in Kassel davon, dass sie zum ersten mal einen Wasserwerfer gesehen habe und vom bestärkenden Gefühl, mehrfach frei durch die Stadt gelaufen zu sein. Diese Teilnehmerin hatte zwar keine negativen Erfahrungen mit der Polizei, die Episode zeigt jedoch, wie ein Moment in einer längeren, ungebrochenen Entwicklung der Radikalisierung aussehen kann.

Über das Corona-Thema ist die Extreme Rechte in der Lage, in ein ihr vormals weitestgehend verschlossenes Milieu hinein zu mobilisieren und so ihren Einfluss zu vergrößern. Antifaschist:innen sollte das beunruhigen.

Über das Corona-Thema ist die Extreme Rechte in der Lage, in ein ihr vormals weitestgehend verschlossenes Milieu hinein zu mobilisieren und so ihren Einfluss zu vergrößern. Antifaschist:innen sollte das beunruhigen. Bis jetzt ist der Anteil derjenigen, die gemeinsame Sache mit Nazis machen vergleichsweise gering. Auf den Demos sind zwar einige tausend Menschen, aber das Potential ist größer, und die Bilder aus Kassel könnten Vorboten gewesen sein. Die Unzufriedenheit mit den Coronamaßnahmen und der Politik der Bundesregierung, insbesondere der CDU/ CSU wächst und der Mittelstand spricht schon lange davon, dass es 5 vor 12 ist.

Zu Recht mutet es absurd an, wenn Leute nicht nur behaupten, sie gingen gegen eine faschistische „Corona-Diktatur“ auf die Straßen, sondern das dann allen Ernstes auch noch gemeinsam mit Nazis tun. Und sicherlich muss man auch da nochmal eine gehörige Portion rechter Selbstinszenierung abziehen. Geschenkt. Nichtsdestotrotz weißt dieser Umstand auch darauf hin, dass das gesellschaftliche Gefüge der Bundesrepublik ins Wanken gerät. Sollte die Rechte in der Lage sein, einen Teil dieser Milieus langfristig einzubinden oder auch nur taktische Allianzen zu schmieden, wird dies ihren gesellschaftlichen Einfluss stabilisieren und ausbauen.

Der Beitrag erschien zuerst im Transit Magazin.

Michael Barthel
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