28 Stunden sind genug

Reform Vollbeschäftigung ist nicht unrealistisch. Vier Millionen neue Jobs reichen aber nicht. Die Arbeitszeit muss radikal verkürzt werden

Frank-Walter Steinmeier hat Vollbeschäftigung versprochen. Binnen zehn Jahren und mit vier Millionen neuen Jobs will der SPD-Kanzlerkandidat dieses Ziel erreichen. In seinem „Deutschland-Plan“ wird es gleich mehrfach aufgeführt. Das ist sicherlich verdienstvoll, weil damit ein Begriff wieder in die Debatte gebracht wird, der durch den Neoliberalismus tabuisiert worden ist: Vollbeschäftigung gehört dringend auf die Agenda. Denn die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit ist die Ursache vieler Krisen.

Erstens: Massenarbeitslosigkeit ist die Hauptursache sinkender Reallöhne und steigender Gewinne, somit der Umverteilung von unten nach oben bei gleichzeitig sinkender Binnennachfrage, die wiederum eine sinkende Kapazität für Investitionen in der Realwirtschaft nach sich zieht. Dadurch wird auf der Kapitalseite die Neigung verstärkt, das überschüssige Kapital im internationalen Finanzsektor anzulegen. Nach Ansicht kritischer Ökonomen ist es dieser Mechanismus der Umverteilung von unten nach oben gewesen, der die Abkopplung der Finanz- von der Realwirtschaft verursacht hat und letztlich auch für die gegenwärtige Weltwirtschafts- und Finanzkrise verantwortlich ist.

Zweitens: Massenarbeitslosigkeit ist die Hauptursache für die Schwächung der Gewerkschaften. Seit 20 Jahren werden die Arbeitnehmerorganisationen in Tarifverhandlungen zu Zugeständnissen geradezu erpresst – sowohl bei Löhnen wie bei Arbeitszeiten. Sinkende Einkommen, steigende Belastung: Deutschland steht mit durchschnittlich etwa 41 Stunden in der Woche in der Arbeitszeit-Rangliste an vorderer Stelle in Europa.

Drittens: Massenarbeitslosigkeit ist die Ursache der um sich greifenden Angst vor dem sozialen Absturz, sie schwächt die Demokratie, stärkt den Nährboden für Rechtsradikalismus, sie ist Wasser auf die Mühlen neoliberaler Parteien, die mit der Angst der Menschen Politik machen.

Abkehr von der Agenda 2010

Mit dem Ziel Vollbeschäftigung kündigt die SPD klammheimlich auch eine Abkehr von ihrer Agendapolitik an, die auf Zementierung und nicht auf Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit angelegt ist. Zu begrüßen ist außerdem, dass die neuen Jobs im Bereich Erneuerbarer Energien, Umwelt- und Klimaschonenden Technologien und vor allem im Dienstleistungssektor, im Bereich Bildung, Gesundheit und der Betreuung von Alten und Benachteiligten entstehen sollen.

Entgegen der Kritik von vielen Seiten, die das Ziel als unrealistisch verwerfen, halten wir es für die allerwichtigste sozial- und wirtschaftspolitische Aufgabe – und für realistisch. Wir bezweifeln allerdings, ob die angepeilten vier Millionen neuen Job genügen, um Vollbeschäftigung zu schaffen. Und das dies allein durch Wachstum erreicht werden kann.

Nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit waren im vergangenen Jahr einschließlich einer stillen Reserve rund 4,4 Millionen Jobsuchende erwerbslos. Hinzu kommen über zwei Millionen weitere Hartz-IV-Empfänger, 1,6 Millionen Ein-Euro-Jobber, drei Millionen Minijobber die ebenfalls keine existenzsichernde Arbeit haben, in der Erwerbslosenstatistik aber nicht auftauchen. Sind diese Menschen schon abgeschrieben, ihrem Schicksal überlassen und nicht mehr Wert, um sie im Deutschland-Plan der SPD zu berücksichtigen? Auch muss man schon jetzt rund eine Million neue Arbeitslosen in die Rechnung einbeziehen, die in Folge der gegenwärtigen Wirtschaftskrise ihre Stellen verlieren werden.

Lücke von zehn Millionen Jobs

Jenseits aller statistischen Tricks und nach wissenschaftlichen Normen ergibt sich eine Lücke von nicht nur vier, sondern alles in allem mindestens rund zehn Millionen Arbeitsplätzen, die nötig sind, um jedem Menschen einen armutsfesten Job anzubieten.

Zur Schaffung dieses beachtlichen Bedarfs bieten sich drei Möglichkeiten an:

Erstens: hohe Wachstumsraten von jährlich vier Prozent und mehr. Diese Alternative scheidet angesichts schrumpfender Wachstumsreserven und der ökologischen Grenzen des Wachstums aus.

Zweitens: ein qualitative Wachstums durch Umleitung der Kapazitäten in umweltfreundliche und Dienstleistungssektoren – wie sie im SPD-Deutschlandplan offensichtlich favorisiert wird. Dieser Weg führt in erster Linie zur Umverteilung von Stellen, jedoch unter dem Strich nicht zu neuen Arbeitsplätzen.

Drittens: Als einzige Option bleibt die drastische Verkürzung der Arbeitszeit und zwar nach Berechnung der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik auf durchschnittlich 28 Stunden pro Woche.

Kreative Potenziale

Kürzere Arbeitszeiten können in vielfältigen Formen entsprechend den Bedürfnissen der Beschäftigten und Unternehmer höchst flexibel in Form von kürzeren Wochen-, Monats, Jahres- und Lebensarbeitszeiten sowie mit der Möglichkeit von Sabbatjahren geregelt werden. Sie sind finanzierbar durch Beiträge der Unternehmer, des Staates, der Arbeitsagentur und teilweise auch der Beschäftigten mit höheren Einkommen. Nur durch die Überwindung der Massenarbeitslosigkeit und eine Vollbeschäftigung neuen Typs kann die Grundlage für Gute Arbeit und ein Leben in Würde aller Menschen gelegt werden. Es ist dies der Weg für eine Gesellschaft, die kreative Potenziale freilegen und die Lebensqualität ihrer Bürger verbessern will.

Für die politische Durchsetzung der Überwindung von Erwerbslosigkeit durch deutlich kürzere Arbeitszeiten bedarf es allerdings einer breiten gesellschaftlichen Allianz. Wer sich in dieser Richtung bewegt, könnte sich sicher sein, künftige Wahlen zu gewinnen.

Peter Grottian ist Professor für Sozialpolitik im Ruhestand. Stephan Krull ist ehemaliges Betriebsratsmitglied von VW. Mohssen Massarrat ist Professor für Politik und Wirtschaft im Ruhestand. Die Autoren sind Mitglieder der Attac-Arbeitsgruppe ArbeitFairTeilen.

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