An der Spitze des Fortschritts

Projekt Linke Mitte Wenn die Grünen regieren, werden sie sich entscheiden müssen: Wollen sie Partei des reinen Festhaltens sein oder Partei der progressiven Veränderung?

Ein gängiger Irrtum des deutschen Politikbetriebes besagt, Parteien seien zu ihrem Tun gewissermaßen durch das Grundgesetz „beauftragt“ worden: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit“, heißt es dort bekanntlich in Artikel 21. Nicht wenige Menschen in Deutschland missverstehen diesen Satz seit Jahrzehnten als eine Art hoheitliche „Betriebsgenehmigung“ für die bestehenden Parteien und das existierende Parteiensystem.

Es ist ganz anders. In freiheitlichen Gesellschaften wie der deutschen entstehen, wachsen und vergehen Parteien von ganz alleine. Sie brauchen dafür keinen staatlichen Auftrag, sondern sie sind zunächst und vor allem gesellschaftliche Phänomene: Menschen finden sich als Parteimitglieder oder Wähler zusammen, um gemeinsamen politischen Zielen oder Prinzipien zur Durchsetzung zu verhelfen; Bürger entscheiden sich bei Wahlen für diejenige Partei, die ihnen am ehesten im Einklang mit ihren eigenen Interessen oder mit dem Lebensgefühl der Gesellschaft zu stehen scheint. „Kraftvolle Parteien sind das Ergebnis kraftvoller Anstöße, die sich aus historischen Lagen ergeben“, schrieb einmal der große Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis.

Es ist an der Zeit, an diesen elementaren Zusammenhang zu erinnern. Denn mit dem gegenwärtigen Aufstieg der Grünen zur möglicherweise zukünftig größeren Partei der linken Mitte in Deutschland vollzieht sich eine wirklich großformatige Transformation unseres Parteiensystems – mit völlig offenem Ausgang. Auf der Welle des bürgerlich gefärbten Widerstandes gegen „Stuttgart 21“ reitend, liegen die Grünen den Umfragen zufolge in Baden-Württemberg mittlerweile gleichauf mit der CDU (und weit vor den Sozialdemokraten). In Berlin schickt sich zugleich Renate Künast an, den ideenlosen SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit 2011 im Amt abzulösen. Sogar auf der Bundesebene messen manche Demoskopen inzwischen bessere Ergebnisse für die Grünen als für die Sozialdemokraten. Wer hätte das alles noch vor ein paar Jahren für vorstellbar gehalten?

Kommunizierende Röhren

Was da passiert, lässt sich keineswegs allein mit dem Versagen der schwarz-gelben Bundesregierung sowie der bislang durchwachsenen Performance der SPD in der Opposition erklären. Natürlich spielt beides eine Rolle. Parteienwettbewerb bedeutet immer auch das dynamische Wechselverhältnis kommunizierender Röhren. So gesehen ist der Höhenflug der Grünen schon in rein mechanischer Hinsicht folgerichtig: Seit fünf Jahren an keiner Regierung mehr beteiligt, sind sie für viele Bürger inzwischen ganz einfach die einzige überhaupt noch verbliebene Alternativoption innerhalb des bestehenden Parteiengefüges.

Dennoch: Dass die Grünen überhaupt in die Funktion eines Anlaufhafens für enttäuschte vormalige Wähler von Union, SPD und FDP hineinwachsen konnten, ist schon für sich genommen bemerkenswert. Es zeigt, dass die in bürgerlichen, kleinbürgerlichen,
proletarischen und ostdeutschen Wählergruppen über viele Jahre als unwählbar geltende „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) endgültig im Zentrum der deutschen Gesellschaft angekommen ist. Die Grünen werden zusehends als zeitgemäße Partei einer sich als
aufgeklärt begreifenden Mitte wahrgenommen: rechts von der Sozialdemokratie, links von Union und FDP – oder, nach grüner Selbstwahrnehmung: „vorn“. Eben deshalb sind sie mittlerweile eine plausible elektorale Option für beträchtliche Bevölkerungsgruppen.

Aber sind die Grünen deshalb auch schon eine „kraftvolle Partei“ im von Wilhelm Hennis formulierten Sinne? Ist ihr demoskopischer Höhenflug also der politische Ausdruck einer grundlegend veränderten „historischen Lage“? Repräsentiert die Partei gesellschaftliche Interessen und Lebensgefühle in ähnlicher Weise, wie dies einst die großen Volksparteien taten? Könnten die Grünen am Ende in einer sich verändernden Republik eine Art kultureller Dominanz erringen? Und wird sich womöglich der Konflikt um das Projekt „Stuttgart 21“ als derjenige „kraftvolle Anstoß“ erweisen, von dem man im historischen Rückblick dereinst sagen wird, er habe die Grünen zur neuen, moderneren Volkspartei der linken Mitte gemacht?

Im Wind des mentalen Wandels

Zunächst: Keine Frage, im frühen 21. Jahrhundert segeln die Grünen in vieler Hinsicht mit dem Wind des gesellschaftlichen und mentalen Wandels. Wir leben heute – nicht nur in Deutschland – unter den Bedingungen immer wissensintensiveren Wirtschaftens, einer umfassenden kulturellen Pluralisierung sowie unbestreitbarer langfristiger Bedrohungen durch den Klimawandel, durch zunehmende Ressourcenknappheit und das weltweite Bevölkerungswachstum.

Angesichts solcher Umstände kann es überhaupt nicht verwundern, dass eine Partei wachsenden Zuspruch aus der Gesellschaft erfährt, die auf ihre Fahnen ökologische Verantwortung, nachhaltiges Wachstum, kulturelle Liberalität und einen über bloße materielle Umverteilung hinausweisenden Gerechtigkeitsbegriff geschrieben hat. Alle wissen es ja im Grunde längst: So wie wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt, gearbeitet und gewirtschaftet haben, werden wir im neuen Jahrhundert tatsächlich nicht einfach fortfahren können. Dass in den nächsten Jahrzehnten kein bloßes „Weiter so“ möglich sein wird und nach den dramatischen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrisen der vergangenen Jahre auch kein einfaches „Zurück zur Normalität“, das ist – wie diffus und vage auch immer – im Bewusstsein fast aller Bevölkerungsgruppen angekommen. „Du musst dein Leben ändern“, heißt ein sehr erfolgreiches aktuelles Buch des gerade in bürgerlichen Kreisen verehrten Philosophen Peter Sloterdijk. Zu dieser verbreiteten Grundstimmung passen die Grünen wie keine andere politische Partei.

Hier ist der zentrale Grund für die neue Hochkonjunktur der Partei zu suchen. Ein zweites, durchaus im Widerspruch dazu stehendes Element kommt allerdings hinzu. Denn natürlich sind die Deutschen in Wirklichkeit nicht in großer Zahl bereit, aus ihrer Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung sogleich radikale Konsequenzen für ihr eigenes Leben zu ziehen. In ebenso unsicheren wie unübersichtlichen Zeiten fliegen viele Sympathien den Grünen gerade auch deshalb zu, weil diese als ökologisch orientierte Partei am ehesten für das unbedingte Festhalten an bestehenden lebensweltlichen Verhältnissen zu stehen scheinen: Warum sollte man eine hypermoderne Durchgangsstation bauen, wo sich doch der in die Jahre gekommene Kopfbahnhof samt alter Parkbäume gerade so wohlig nach Entschleunigung, Heimat und Tradition anfühlt?

Was konservativ sein heißt

„Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit“ – auch von dieser in verunsicherten Teilen der deutschen Gesellschaft vorhandenen Sehnsucht nach Einfachheit und Einkehr, nach Bewahrung und Bodenständigkeit profitieren die Grünen derzeit sehr. Tatsächlich ist ja auffällig, dass es seit Jahrzehnten vor allem die dem eigenen Selbstverständnis nach „konservativen“ Parteien sind, die mit forcierter ökonomischer oder infrastruktureller Modernisierung Veränderungen heraufbeschwören, die viele Menschen als Verluste empfinden.

Franz-Josef Strauß erklärte einst: „Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“ Aber diesen „Modernisierungskonservatismus“ halten heute viele Bürger nur noch für Etikettenschwindel. Als Nutznießer seines Niedergangs dürften sich in Zukunft neue populistische Parteien rechts der Union erweisen – aber zugleich eben auch die Grünen.

Einerseits „Du musst Dein Leben ändern“ – andererseits konservative Innerlichkeit: Die Hoffnungen und Erwartungen, die sich derzeit aus der deutschen Gesellschaft heraus auf die Grünen richten, könnten kaum widersprüchlicher sein. Zeigt nicht allein dies schon an, wie sehr die Partei inzwischen auf dem Weg zu einer Art neuer deutschen Volkspartei ist? Schließlich bestand das Erfolgsrezept der Parteien dieses Typs immer gerade darin, dass sie unter ihren breiten Dächern heterogene Strömungen und Milieus formelkompromisshaft so integrierten, dass deren Konflikte miteinander niemals zum finalen, selbstzerstörerischen Austrag kamen. Das Ganze der erfolgreichen Volkspartei war immer mehr als die Summe ihrer Einzelteile.

Keine neue Blüte

Trotzdem werden die Grünen das Modell Volkspartei nicht noch einmal zu neuer Blüte führen, dafür fehlt es schlicht an kulturellem und sozialem Kitt, der die unterschiedlichen Wählergruppen dauerhafter aneinander binden könnte. Aber die Partei wäre auch gar nicht gut beraten, das historisch gewordene Projekt Volkspartei auch nur auszuprobieren. Als Oppositionspartei haben die Grünen gegenwärtig zwar keinen akuten Anlass, unerfüllbare Erwartungen abzuwehren; ihre aktuelle programmatische Formel vom „Green New Deal“, mit dessen Hilfe sich alle ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme ohne Zielkonflikte und Zumutungen im Sinne einer Win-win-win-Logik irgendwie aus der Welt schaffen ließen, taugt derzeit gewiss bestens für die politische Kommunikation. Doch als regierende Partei müssten sich die Grünen entscheiden: Wollen sie Partei des reinen Festhaltens sein oder Partei der progressiven Veränderung?

Die Wahrheit lautet, dass gerade die ökologische und soziale Erneuerung unserer Gesellschaft in – letztlich – bewahrender Absicht im 21. Jahrhundert ein außerordentliches Maß an gesellschaftlicher Transformation, wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt erfordern wird. Oder wie sollten wir sonst – beispielsweise – unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen überwinden? Wie sollte es sonst möglich sein, im Jahr 2050 weltweit neun Milliarden Menschen zu ernähren? Zumutungsfrei können die fälligen Umbrüche nicht abgehen, wenn sie wirksam sein sollen.

Die Grünen müssen deshalb heute Franz Josef Strauß‘ Satz vom Kopf auf die Füße stellen: Nur wer ebenso radikal wie klug an der Spitze des Fortschritts marschiert, wird im 21. Jahrhundert letztlich – im Wortsinne – konservativ wirken. Um ihrer Ziele, ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer politischen Wirksamkeit willen können sich die Grünen im Grunde nur für diesen Weg der Bewahrung durch Fortschritt entscheiden, und sie sollten dies den Bürgern auch offen so sagen. Zu einer allseits beliebten Volkspartei herkömmlichen Zuschnitts werden die Grünen so natürlich nicht, zu einer „kraftvollen Partei“ für die „historischen Lagen“ des 21. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich schon.

Tobias Dürr, Jahrgang 1965, ist Politikwissenschaftler und Chefredakteur der von den SPD-Netzwerkern herausgegebenen Zeitschrift Berliner Republik. Dürr ist außerdem Vorsitzender des Progressiven Zentrums, mit dem der Freitag beim Debattenprojekt Linke Mitte kooperiert. Der Text erschien auch hier im Rotary Magazin.

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