Ein gängiger Irrtum des deutschen Politikbetriebes besagt, Parteien seien zu ihrem Tun gewissermaßen durch das Grundgesetz „beauftragt“ worden: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit“, heißt es dort bekanntlich in Artikel 21. Nicht wenige Menschen in Deutschland missverstehen diesen Satz seit Jahrzehnten als eine Art hoheitliche „Betriebsgenehmigung“ für die bestehenden Parteien und das existierende Parteiensystem.
Es ist ganz anders. In freiheitlichen Gesellschaften wie der deutschen entstehen, wachsen und vergehen Parteien von ganz alleine. Sie brauchen dafür keinen staatlichen Auftrag, sondern sie sind zunächst und vor allem gesellschaftliche Phänomene: Menschen finden sich als Parteimitglieder oder Wähler zusammen, um gemeinsamen politischen Zielen oder Prinzipien zur Durchsetzung zu verhelfen; Bürger entscheiden sich bei Wahlen für diejenige Partei, die ihnen am ehesten im Einklang mit ihren eigenen Interessen oder mit dem Lebensgefühl der Gesellschaft zu stehen scheint. „Kraftvolle Parteien sind das Ergebnis kraftvoller Anstöße, die sich aus historischen Lagen ergeben“, schrieb einmal der große Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis.
Es ist an der Zeit, an diesen elementaren Zusammenhang zu erinnern. Denn mit dem gegenwärtigen Aufstieg der Grünen zur möglicherweise zukünftig größeren Partei der linken Mitte in Deutschland vollzieht sich eine wirklich großformatige Transformation unseres Parteiensystems – mit völlig offenem Ausgang. Auf der Welle des bürgerlich gefärbten Widerstandes gegen „Stuttgart 21“ reitend, liegen die Grünen den Umfragen zufolge in Baden-Württemberg mittlerweile gleichauf mit der CDU (und weit vor den Sozialdemokraten). In Berlin schickt sich zugleich Renate Künast an, den ideenlosen SPD-Bürgermeister Klaus Wowereit 2011 im Amt abzulösen. Sogar auf der Bundesebene messen manche Demoskopen inzwischen bessere Ergebnisse für die Grünen als für die Sozialdemokraten. Wer hätte das alles noch vor ein paar Jahren für vorstellbar gehalten?
Kommunizierende Röhren
Was da passiert, lässt sich keineswegs allein mit dem Versagen der schwarz-gelben Bundesregierung sowie der bislang durchwachsenen Performance der SPD in der Opposition erklären. Natürlich spielt beides eine Rolle. Parteienwettbewerb bedeutet immer auch das dynamische Wechselverhältnis kommunizierender Röhren. So gesehen ist der Höhenflug der Grünen schon in rein mechanischer Hinsicht folgerichtig: Seit fünf Jahren an keiner Regierung mehr beteiligt, sind sie für viele Bürger inzwischen ganz einfach die einzige überhaupt noch verbliebene Alternativoption innerhalb des bestehenden Parteiengefüges.
Dennoch: Dass die Grünen überhaupt in die Funktion eines Anlaufhafens für enttäuschte vormalige Wähler von Union, SPD und FDP hineinwachsen konnten, ist schon für sich genommen bemerkenswert. Es zeigt, dass die in bürgerlichen, kleinbürgerlichen,
proletarischen und ostdeutschen Wählergruppen über viele Jahre als unwählbar geltende „Anti-Parteien-Partei“ (Petra Kelly) endgültig im Zentrum der deutschen Gesellschaft angekommen ist. Die Grünen werden zusehends als zeitgemäße Partei einer sich als
aufgeklärt begreifenden Mitte wahrgenommen: rechts von der Sozialdemokratie, links von Union und FDP – oder, nach grüner Selbstwahrnehmung: „vorn“. Eben deshalb sind sie mittlerweile eine plausible elektorale Option für beträchtliche Bevölkerungsgruppen.
Aber sind die Grünen deshalb auch schon eine „kraftvolle Partei“ im von Wilhelm Hennis formulierten Sinne? Ist ihr demoskopischer Höhenflug also der politische Ausdruck einer grundlegend veränderten „historischen Lage“? Repräsentiert die Partei gesellschaftliche Interessen und Lebensgefühle in ähnlicher Weise, wie dies einst die großen Volksparteien taten? Könnten die Grünen am Ende in einer sich verändernden Republik eine Art kultureller Dominanz erringen? Und wird sich womöglich der Konflikt um das Projekt „Stuttgart 21“ als derjenige „kraftvolle Anstoß“ erweisen, von dem man im historischen Rückblick dereinst sagen wird, er habe die Grünen zur neuen, moderneren Volkspartei der linken Mitte gemacht?
Im Wind des mentalen Wandels
Zunächst: Keine Frage, im frühen 21. Jahrhundert segeln die Grünen in vieler Hinsicht mit dem Wind des gesellschaftlichen und mentalen Wandels. Wir leben heute – nicht nur in Deutschland – unter den Bedingungen immer wissensintensiveren Wirtschaftens, einer umfassenden kulturellen Pluralisierung sowie unbestreitbarer langfristiger Bedrohungen durch den Klimawandel, durch zunehmende Ressourcenknappheit und das weltweite Bevölkerungswachstum.
Angesichts solcher Umstände kann es überhaupt nicht verwundern, dass eine Partei wachsenden Zuspruch aus der Gesellschaft erfährt, die auf ihre Fahnen ökologische Verantwortung, nachhaltiges Wachstum, kulturelle Liberalität und einen über bloße materielle Umverteilung hinausweisenden Gerechtigkeitsbegriff geschrieben hat. Alle wissen es ja im Grunde längst: So wie wir in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt, gearbeitet und gewirtschaftet haben, werden wir im neuen Jahrhundert tatsächlich nicht einfach fortfahren können. Dass in den nächsten Jahrzehnten kein bloßes „Weiter so“ möglich sein wird und nach den dramatischen Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrisen der vergangenen Jahre auch kein einfaches „Zurück zur Normalität“, das ist – wie diffus und vage auch immer – im Bewusstsein fast aller Bevölkerungsgruppen angekommen. „Du musst dein Leben ändern“, heißt ein sehr erfolgreiches aktuelles Buch des gerade in bürgerlichen Kreisen verehrten Philosophen Peter Sloterdijk. Zu dieser verbreiteten Grundstimmung passen die Grünen wie keine andere politische Partei.
Hier ist der zentrale Grund für die neue Hochkonjunktur der Partei zu suchen. Ein zweites, durchaus im Widerspruch dazu stehendes Element kommt allerdings hinzu. Denn natürlich sind die Deutschen in Wirklichkeit nicht in großer Zahl bereit, aus ihrer Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung sogleich radikale Konsequenzen für ihr eigenes Leben zu ziehen. In ebenso unsicheren wie unübersichtlichen Zeiten fliegen viele Sympathien den Grünen gerade auch deshalb zu, weil diese als ökologisch orientierte Partei am ehesten für das unbedingte Festhalten an bestehenden lebensweltlichen Verhältnissen zu stehen scheinen: Warum sollte man eine hypermoderne Durchgangsstation bauen, wo sich doch der in die Jahre gekommene Kopfbahnhof samt alter Parkbäume gerade so wohlig nach Entschleunigung, Heimat und Tradition anfühlt?
Was konservativ sein heißt
„Wo wir uns finden wohl unter Linden zur Abendzeit“ – auch von dieser in verunsicherten Teilen der deutschen Gesellschaft vorhandenen Sehnsucht nach Einfachheit und Einkehr, nach Bewahrung und Bodenständigkeit profitieren die Grünen derzeit sehr. Tatsächlich ist ja auffällig, dass es seit Jahrzehnten vor allem die dem eigenen Selbstverständnis nach „konservativen“ Parteien sind, die mit forcierter ökonomischer oder infrastruktureller Modernisierung Veränderungen heraufbeschwören, die viele Menschen als Verluste empfinden.
Franz-Josef Strauß erklärte einst: „Konservativ sein heißt, an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“ Aber diesen „Modernisierungskonservatismus“ halten heute viele Bürger nur noch für Etikettenschwindel. Als Nutznießer seines Niedergangs dürften sich in Zukunft neue populistische Parteien rechts der Union erweisen – aber zugleich eben auch die Grünen.
Einerseits „Du musst Dein Leben ändern“ – andererseits konservative Innerlichkeit: Die Hoffnungen und Erwartungen, die sich derzeit aus der deutschen Gesellschaft heraus auf die Grünen richten, könnten kaum widersprüchlicher sein. Zeigt nicht allein dies schon an, wie sehr die Partei inzwischen auf dem Weg zu einer Art neuer deutschen Volkspartei ist? Schließlich bestand das Erfolgsrezept der Parteien dieses Typs immer gerade darin, dass sie unter ihren breiten Dächern heterogene Strömungen und Milieus formelkompromisshaft so integrierten, dass deren Konflikte miteinander niemals zum finalen, selbstzerstörerischen Austrag kamen. Das Ganze der erfolgreichen Volkspartei war immer mehr als die Summe ihrer Einzelteile.
Keine neue Blüte
Trotzdem werden die Grünen das Modell Volkspartei nicht noch einmal zu neuer Blüte führen, dafür fehlt es schlicht an kulturellem und sozialem Kitt, der die unterschiedlichen Wählergruppen dauerhafter aneinander binden könnte. Aber die Partei wäre auch gar nicht gut beraten, das historisch gewordene Projekt Volkspartei auch nur auszuprobieren. Als Oppositionspartei haben die Grünen gegenwärtig zwar keinen akuten Anlass, unerfüllbare Erwartungen abzuwehren; ihre aktuelle programmatische Formel vom „Green New Deal“, mit dessen Hilfe sich alle ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme ohne Zielkonflikte und Zumutungen im Sinne einer Win-win-win-Logik irgendwie aus der Welt schaffen ließen, taugt derzeit gewiss bestens für die politische Kommunikation. Doch als regierende Partei müssten sich die Grünen entscheiden: Wollen sie Partei des reinen Festhaltens sein oder Partei der progressiven Veränderung?
Die Wahrheit lautet, dass gerade die ökologische und soziale Erneuerung unserer Gesellschaft in – letztlich – bewahrender Absicht im 21. Jahrhundert ein außerordentliches Maß an gesellschaftlicher Transformation, wissenschaftlichem und technologischem Fortschritt erfordern wird. Oder wie sollten wir sonst – beispielsweise – unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen überwinden? Wie sollte es sonst möglich sein, im Jahr 2050 weltweit neun Milliarden Menschen zu ernähren? Zumutungsfrei können die fälligen Umbrüche nicht abgehen, wenn sie wirksam sein sollen.
Die Grünen müssen deshalb heute Franz Josef Strauß‘ Satz vom Kopf auf die Füße stellen: Nur wer ebenso radikal wie klug an der Spitze des Fortschritts marschiert, wird im 21. Jahrhundert letztlich – im Wortsinne – konservativ wirken. Um ihrer Ziele, ihrer Glaubwürdigkeit und ihrer politischen Wirksamkeit willen können sich die Grünen im Grunde nur für diesen Weg der Bewahrung durch Fortschritt entscheiden, und sie sollten dies den Bürgern auch offen so sagen. Zu einer allseits beliebten Volkspartei herkömmlichen Zuschnitts werden die Grünen so natürlich nicht, zu einer „kraftvollen Partei“ für die „historischen Lagen“ des 21. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich schon.
Tobias Dürr, Jahrgang 1965, ist Politikwissenschaftler und Chefredakteur der von den SPD-Netzwerkern herausgegebenen Zeitschrift Berliner Republik. Dürr ist außerdem Vorsitzender des Progressiven Zentrums, mit dem der Freitag beim Debattenprojekt Linke Mitte kooperiert. Der Text erschien auch hier im Rotary Magazin.
Kommentare 9
Warum so vorsichtig, so rücksichtsvoll einsichtig, ermahnend hoffend mit den Grünen? Deren Aufgabe, deren Funktion des Funktionierens des Reload unter neuem Logo ist doch absolut klar.
Schon einige Jahre alt der Text, dennoch Bezüge ohne Ende zur Jetztzeit, zu den erwartbaren, weiteren Szenarien der Apocalypse - und wird aktuell selbst im medialen Mainstream breit und mit schon morbidem Gruseln rezensiert:
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Kein Zweifel: grün liegt in der Luft; die Umwelt wird das Drehmoment der politischen Ökonomie des 21. Jahrhunderts sein. Auf jeden Schub Katastrophismus folgt eine Salve "industrieller Lösungen".
Beim Durchblättern der Seiten der Hochglanzmagazine koexistieren ökologische Autos, saubere Energie, Environmental Counsulting ohne Schwierigkeit mit der neusten Chanel-Werbung.
Es heißt, dass die Umwelt das unvergleichliche Verdienst hat, das erste globale Problem zu sein, das sich der Menschheit stellt. Ein globales Problem, also ein Problem, wofür nur diejenigen die Lösung haben können, die global organisiert sind. Und diese, die kennen wir. Es sind dies die Gruppen, die seit fast einem Jahrhundert die Avantgarde des Desasters sind und fest entschlossen dies zu bleiben, zum minimalen Preis eines Logo-Wechsels.
Es liegt an jedem Einzelnen, sein Verhalten zu ändern, sagen sie, wenn wir unser schönes Zivilisationsmodell retten wollen. Es muss wenig konsumiert werden, um noch konsumieren zu können. Biologisch produzieren um noch produzieren zu können. Sich selbst zwingen, um noch zwingen zu können. Und so mag die Logik einer Welt überleben, indem sie sich den Anschein eines historischen Bruchs gibt. So möchte man uns davon überzeugen, uns an den vorrückenden industriellen Herausforderungen dieses Jahrhunderts zu beteiligen. Bekloppt wie wir sind, wären wir bereit, in die Arme derer zu springen, welche die Verwüstung angeführt haben, damit sie uns da rausholen.
Die Ökologie ist nicht nur die Logik der totalen Ökonomie, sie ist auch die neue Moral des Kapitals. Der interne Krisenzustand des Systems und die Unerbittlichkeit der sich abspielenden Selektion sind so hart, dass erneut ein Kriterium benötigt wird, um in dessen Namen ein solches Aussortieren durchführen zu können.
Im Namen der Ökologie wird man nun den Gürtel enger schnallen müssen, wie gestern im Namen der Wirtschaft. Natürlich könnten sich die Straßen in Radwege verwandeln, wir könnten sogar in unseren Breitengraden mit einem garantierten Grundeinkommen beehrt werden, aber nur zum Preis einer vollkommen therapeutischen Existenz. Wer behauptet, dass die verallgemeinerte Selbstkontrolle uns das Erleiden einer Umweltdiktatur ersparen wird, lügt: das Eine wird das Andere in die Wege leiten und wir werden beides kriegen.
Was die Krise wünschenswert macht, ist, dass die Umwelt in ihr aufhört Umwelt zu sein. Wir sind im Begriff, einen Kontakt wiederzuknüpfen, auch wenn er fatal ist, mit dem, was da ist, die Rhytmen der Realität wiederzufinden.
Während sich die Verwalter platonisch fragen, wie das Tempo gedrosselt werden kann, »ohne alles zu zertrümmern«, sehen wir keine realistischere Option als so früh wie möglich «alles zu zertrümmern...
Das Abendland, das ist heute ein GI, der in einem Abraham M1 Panzer nach Falloudja rast und volle Pulle Hardrock hört. Es ist ein Tourist, der verloren mitten in den Ebenen der Mongolei von allen verlacht seine Kreditkarte umklammert wie den letzten Strohhalm.
Es ist ein schweizer Menschenrechtsaktivist, der um alle vier Ecken des Planeten reist, solidarisch mit allen Revolten, sofern sie niedergeschlagen werden.
Das Abendland, das ist jene Zivilisation, die alle Prophezeiungen über ihren Untergang durch eine eigenartige List überlebt hat. So wie das Bürgertum sich als Klasse verneinen musste, um die Verbürgerlichung der Gesellschaft vom Arbeiter bis zum Baron zu ermöglichen. Wie sich das Kapital als Lohnverhältnis opfern musste, um sich als soziales Verhältnis durchzusetzen, um dadurch zu kulturellem Kapital und gesundheitlichem Kapital, wie auch zu finanziellem Kapital zu werden. Wie das Christentum sich als Religion opfern musste, um als affektive Struktur zu überleben, als diffuse Mahnung zu Demut, Mitgefühl und Ohnmacht, das Abendland hat sich als besondere Zivilisation geopfert, um sich als universelle Kultur durchzusetzen. Das Vorgehen lässt sich wie folgt zusammenfassen: Ein im Sterben liegendes Gebilde opfert sich als Inhalt, um als Form zu überleben.
In diesem Stadium macht sich jeder ausschließlich soziale Protest, der sich weigert anzuerkennen, dass das, was uns gegenübersteht, nicht die Krise einer Gesellschaft ist, sondern der Untergang einer Zivilisation, zum Komplizen ihres Fortbestehens. Es ist nunmehr sogar eine verbreitete Strategie, diese Gesellschaft zu kritisieren in der vergeblichen Hoffnung, diese Zivilisation zu retten.
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Auf geht's...
@ ebertus
Copy and paste
aus "Der unsichbare Aufstand", oder bist Du einer vom unsichtbaren Komitee?
Zum Dreinschlagen ist mir und wahrscheinlich sogar sehr vielen auch zumute. Ein Bild das Mao mit dem wütenden Affen und seinem Stock ausmalte. Und in seiner Beschreibung der Klassen kommt auch die 9., die der Intelligenz, als "stinkende Neun" nicht besonders gut weg.
Die Konsequenz, die Kulturrevolution.., ich, und wahrscheinlich auch Du, möchtest sie nicht erlebt haben.
Zur Wiedergewinnung des Natürlichen gehört es aber sicher auch, die wilden Stämme, die Horden, die sprachlosen "Barbaren", Plapperer am Rande der Zivilisation, der bekannten Welt, nicht ausgegrenzt zu lassen.
Also "Kommune"; Willkommen im Club!
Ich habe hier in mehreren Blogs bereits zu den Grünen geschrieben. Den Kernaussagen von Herrn Dürr stimme ich zu, die Grünen stehen vor Herausforderungen wie noch nie in ihrer Geschichte. Der Sprung von etwa 10% der Stimmen bei bisherigen Wahlen auf prognostizierte , aber eben noch nicht reale , mehr als 20% der Stimmen bedeutet nicht nur mehr Verantwortung. Es bedeutet auch, dass die Grünen Antworten geben müssen auf Fragen, die ihre potentiellen Wähler stellen. Das sind Zukunftsfragen wie eben, wie ernähren wir in 40 Jahren 9 Mrd. Menschen, wie stellen wir unsere Industie so um, dass sie trotz immer knapperer Ressourcen weiterhin weltmarktfähig ist, aber auch ganz praktische Fragen, wie ein Atomendlager oder die Zukunft von Asse. Diese programmatische Arbeit bedeutet, dass für die Wahlen in BW und Berlin für die spezifischen und lokalen Probleme Lösungsansätze erarbeitet werden müssen, um den politischen Gegner argumentativ schlagen zu können.
Das Führungspersonal der Grünen ist erfahren, das stimmt. nur ist es eben auch politisch belastet. Fraktionschef Trittin war Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten des niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder und später Umweltminister des Kanzlers Schröder, seine Kollegin Künast war unter Schröder Verbraucherschutzministerin. Auch die Parteichefs Öcdemir und Roth sind grüne Urgesteine.
Ist von diesen Politikern eine solche Aufgabe zu bewältigen? Wer von den jungen Talenten der Grünen rückt aus der zweiten Reihe nach, mit innovativen Ideen und Lösungsmöglichkeiten?
Auch dies ist eine Frage, der sich die Grünen stellen müssen. Der momentane Spagat zwischen ausserparlametarischer Opposition und Programmpartei, die an der Spitze des Fortschritts steht, ist dabei sogar hilfreich, wenn er als Synergieeeffekt genutzt wird. Das, was die Menschen bewegt, mit in eine inhaltliche Diskussion einbinden, diese inhaltliche Diskussion nicht nur innerparteilich, sondern breit gesellschaftlich angelegt führen und dabei die Meinungsführerschaft behalten, das ist die grüne Aufgabe in unserer historischen Zeit. Schaffen die Grünen dies, so können sie wirklich als gesellschaftlich verankerte Programmpartei eine historische Aufgabe erfüllen.
In einer sehr verblüffenden Weise entwickelte Marx einmal eine revolutioäre Theorie, die da lautete: " Die Emanzipation des Deutschen .. ist die Emanzipation des Menschen". Normalerweise verlassen die Deutschen bei Revolutionen nicht die Park- und Gartenwege; es muss wohl etwas mit der deutschen Gründlichkeit zu tun haben, wenn schon Revolution, dann auch eine besonders gründliche durchführen zu wollen, weshalb Marx zu dieser These kommt. Und wahrscheinlich ist Deutschland auch kein allzu schlechter Platz zum Denken, nicht zu groß und nicht zu kein, nicht zu zentral, nicht zu mächtig oder zu ohnmächtig.
Verfolgt man die Quellen der Aufklärung, dann gehen von hier aus gewichtige Beiträge aus.
Und Künast, in ihrer Rede vor der BuDeKo in Freiburg berief sich auf die Aufklärung, und was mich besonders erstaunte und freute auf die Jahre 67-68. Mag es auch den Pariser Mai, die Yuppies in den USA, die anderen Brennpunkte gegeben haben, die "Grünen" der Zusammenschluß der APO (man muss es heute nochmal sagen "außerparlamentarische Opposition" ) als politische Kraft sind das Original für die Blaupausen weltweit, sofern Parteien zugelassen werden.
Und wo nicht, dann wenigstens ihr zentrales Thema, die Ökologie. Selbst China will sich grün anstreichen; wird aufgrund seines Staatsdirigismus sogar schneller den notwendigen Strukturwandel schaffen als alle anderen. "Freiheit ist (eben) die Einsicht in die Notwendigkeit." (Marx)
"Das Soziale mit dem Ökologischen zusammenbringen" ( Zitat Künast).
Das bezeichnet ganz gut, was eine Verkehrsform an sich ist, wie z.B die als "Kapitalismus" bekannte, nichts anderes als das Verhalten, "der Umgang des Menschen mit sich (seinesgleichen) und mit der Natur.
( auch Marx, sorry)
Der "New Green Deal" war noch geschuldet dem vorauseilenden Gehorsam der Sozialdemokratie gegenüber, zum Zweck, wenigstens ein paar "grüne Inhalte" durchsetzen zu können. Und auch geschuldet natürlich dem übermächtig erscheinenden Realitätsverhältnis gegenüber, das da als "soziale Marktwirschaft" immer wieder neu definiert wird.
Das erstere hat sich geändert. Das macht Hoffnung. "Mut schreibt man grün" (Künast). Aber die Basis?!.
Der östereichische "standard" hatte eine schöne und nicht ganz unzutreffende Schlagzeile: "Basiswapperl bestätigen Chefs". Wapperl? Ich dachte zunächst an die wedelnden Abstimmkarten. Hat aber eine andere Wortbedeutung.
Meine Vermutung ist, dass sich so einige Fückse im Bau der Grünen ganz gut einrichtet haben, die schlau auch auf solchen Parteitagen ihre strategischen Posten besetzen.
Revolution, darüber muss man sich im klaren sein, und es auch mal so deutlich machen, hat mit dem was 1789 als bürgerliche in die Geschichte einging, überhaupt nichts gemein, keine Revolte, kein Sturm auf die Bastille, kein "Thermidor" und keine Guillotine. Das Bild, das eine Baustelle bietet, passt schon eher dafür.
Sorry, spät am frühen morgen. Muss nicht Wapperl heissen sondern Wappler !!! Basiswappler !!
Grüne an die Fleischtöpfe!
Der Autor hat freundlicherweise Wilhelm Hennis über die Entstehung von Parteien zitiert. Sehr lesenswert ist von ihm 'Der "Parteienstaat" des Grundgesetzes : eine gelungene Erfindung', SPIEGEL-Verlag 1992, was die "Mitwirkung" der Parteien betrifft.
Noch zu definieren ist, was Parteien überhaupt sind, dazu zitiere ich Max Weber (Wilhelm Hennis hat sich sehr mit ihm beschäftigt):
»Parteien sollen heißen auf (formal) freier Werbung beruhende Vergesellschaftungen mit dem Zweck, ihren Leitern innerhalb eines Verbandes Macht und ihren aktiven Teilnehmern dadurch (ideelle oder materielle) Chancen (der Durchsetzung von sachlichen Zielen oder der Erlangung von persönlichen Vorteilen oder beides) zuzuwenden.«
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Wieder mal höchste Zeit für die Grünen links zu blinken und dann nach den Wahlen mit Vollgas halbrechts abzubiegen. "Verminderung des Ehegattensplittings, Krankenkassenumbau, Gewerbesteuerpflicht für Freiberufler, höherer Spitzensteuersatz ..." Nicht das ich etwas dagegen hätte. Nur, geschwätzt ist geschwind.
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Schluß mit der Politik für heute - Jetzt wende ich mich wieder meinem technischen Tagwerk zu - Punkt!
@Hans-Jürgen Kapust
Natürlich, mit entsprechender Einleitung und wohl erkennbar sehr selektiv zum Beitrag hier passend. Die Aufgabe der Grünen, die Funktion der Ökologie als weiteres, vielleicht letztes Fortschreiben der Macht- und Besitzverhältnisse wurde nie besser, nie aktueller dargestellt als in diesem bereits vier Jahre alten Text.
Bereits mehrfach im Freitag, mit geringer bis keiner Resonanz erwähnt, schreit dieser Text ja geradezu nach Reflektion und Diskussion. Wenn ich lese, was Jürgen Trittin vor einigen Tagen hier im Freitag geschrieben hat, so wäre das dortige Umfeld vielleicht noch besser geeignet gewesen. Die schon beinahe kokette Postulierung des illusionslosen Sachzwanges, dieses TINA als Naturgesetz, wo Demokratie dann zwangsläufig am Ende ist, das ist exakt der widerständige Tenor dieser Auszüge hier.
Ein Letztes vorab: Der Hinweis auf die drohende Revolution, gar Anarchie, worauf der dritte Teil des Textes und relativ vage orientiert ist, wird im medialen Mainstream bei der genannten, schon morbiden Rezension gern als unausweichliche Konsequenz, gar Drohkulisse, eben als alternativlose Quintessenz dargestellt. Keiner wohl mag die am Schluß der FAZ-Rezension plakativ angerohten schwarzen Geländewagen der maordierenden Banden. Aber erstens gibt es nach der siebenkreisigen Bestandsaufnahme und vor der Apocalypse noch ander Optionen (und nicht die Ökologie als Schimäre) und zweitens gilt bei entsprechendem (zugegeben) Sarkasmus die alte Weisheit: "Wer viel hat, hat viel zu verlieren" vice versa...
So, jetzt muss ich los zum Reichstag, obwohl derartige Proteste, wie aktuell für heute vormittag dort geplant, nach dem Tenor des kommenden Aufstandes eher kontraproduktiv sind. Also, man kann das lesen, muss sich aber nicht unbedingt und in jeder Konklusion gemein damit machen.
Schön, wie ein völlig banaler Text zum Ausgangspunkt interessanter Einträge wurde - erlebt man ja gelegentlich auch umgekehrt. Zeigt aber, dass dieses komische Projekt "Linke Mitte" und solch alberne Begriffe wie "progressives Zentrum" für brauchbare Diskussionen höchstens durch Zufall zu brauchen sind.
Interessant, die taz legt mit der ultimativen Keule nach, attestiert beinahe allen, auch dem eher staatskonformen, medialen Mainstream ein "nicht verstehen, nicht erkennen". Haben natürlich zu Aufgeregtheit allen Grund, die Unterstützer der neu gelabelten Grünen, die ja selbst Heribert Prantl (sicher perspektivisch) in der SZ als neue CDU erkennt.
"Alles seitenverkehrt" sagte Pierre Bourdieu 1999 und in nur partiell anderem Zusammenhang.
www.taz.de/1/debatte/theorie/artikel/1/der-kommende-lautstand/