Eine wörtliche Übersetzung hilft zur Klärung Brüsseler Sprachschöpfungen nur selten weiter. Die Methode der Offenen Koordinierung (OMK) der Mitgliedsstaaten zum Beispiel umschreibt seit 1993, dass Brüssel in bestimmten politischen Fragen gegenüber den Mitgliedsstaaten keine direkte Zielerreichung erzwingen, also auch die Verfehlung von Zielen nicht sanktionieren kann. Stattdessen wird darauf gesetzt, dass in solchen Fällen die Staaten in regelmäßiger Fülle Statistiken und Berichte produzieren, auf dass durch Transparenz und Erfahrungsaustausch eine Verbesserung im Wettstreit nationaler Ehrgeizlinge vorankomme. Ist ein betreffender Staat zu weit von Brüsseler Wünschen entfernt, verweist die EU gern auf Leitlinien, die aber nur empfehlenden Charakter haben. „Soft law“ vom Feinsten.
Ein derart zahnloses Controlling wird von den Mitgliedsstaaten auch bei sozialpolitischen Themen geschätzt. Das gilt auch beim Thema Flexicurity: Gerade in Brüssel wuchs in den letzten Jahren das Gefühl dafür, dass ausufernden neoliberalen Exzessen bei der Zertrümmerung „wohlfahrtsstaatlicher“ Rahmenbedingungen etwas entgegengesetzt werden müsse. Zugleich aber sollte die Flexibilität der Arbeitsmärkte erhalten oder sogar gesteigert werden, weil das für den als notwendig erachteten Strukturwandel von Vorteil sei.
Was auf den ersten Blick wie die Quadratur des Kreises aussieht, fand man in Teilen schon in Skandinavien und den Niederlanden umgesetzt, als Prinzip sollte „Flexicurity“ EU-weit ausgebaut werden. Verkürzt gesagt: Nicht ein Bestandsschutz des einmal erreichten Arbeitsplatzes für Arbeitnehmer sei zu verteidigen, hier stellt sich Brüssel eindeutig ins Arbeitgeberlager und hat nichts gegen geringen Kündigungsschutz einzuwenden. Wohl aber sei abzusichern, dass Beschäftigten ein durchaus großzügiges Einkommen in Phasen zwischenzeitlicher Arbeitslosigkeit, bessere Chancen beim Zugang zu Qualifizierung („Lebenslanges Lernen“), kompetente Beratung und Vermittlung, und auch sonst ausreichende Angebote zur fortlaufenden Anpassung ihres Arbeitsvermögens gegeben werde. Bestandsschutz von Stellen ausdrücklich: nein, Beschäftigungssicherheit ausdrücklich: ja. Wenn man so will und um im Brüsseler Jargon zu bleiben: ein nationales Projekt von Public-Private-Partnership.
Grundsätze verabschiedet – und nun?
Soll diese Balance aber überhaupt praxistauglich werden, ist zwingend nationale Politik gefragt. Vom Europäischen Rat wurden deshalb im Dezember 2007 auch Grundsätze zum Thema Flexicurity verabschiedet, die bis 2010 von allen Mitgliedsstaaten umgesetzt werden sollen. Ziel ist es, wenngleich jeweils auf nationale Besonderheiten zugeschnitten, bis dahin ein „Flexicurity-Mainstreaming“ in allen Bereichen nationaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu erreichen. Doch in den Mitgliedsstaaten weiß man, wie kurz der Brüsseler Arm ist, wenn nichts als die „OMK-Methode“ ins Feld geführt werden kann.
Keine Überraschung ist es deshalb, dass der Praxistest beim neuen Brüssler Mega-Thema ziemlich eindeutig ausfällt. Papier, so kann man nach jüngsten Untersuchungen des gewerkschaftsnahen WSI-Instituts vermuten, bleibt auch im digitalen Zeitalter geduldig - mitunter sogar ausgesprochen kreativ.
Vielfach scheint man bis heute vor allem darin Ehrgeiz entwickelt zu haben, gegenüber Brüssel die bisherige nationale Praxis nachträglich als Teil von Flexicurity darzustellen. Denn hinsichtlich der tatsächlichen Umsetzung des Zwitter-Modells klafft in den EU-Staaten nach Einschätzung der Düsseldorfer Forscher noch eine große Lücke. Mehr noch: Eine akutelle Analyse zeigt, dass Flexibilität am Arbeitsmarkt bisher fast überall mit einer Verschlechterung der Jobs einhergeht: In keinem der EU-Mitgliedsländer fiel ein höherer Grad von Arbeitsflexibilität mit einem niedrigeren Grad von Prekarität in der Arbeit beziehungsweise einem hohen Grad an sozialer Sicherheit zusammen. Die Studie zeigt aber auch, was unter der Überschrift „Flexicurity“ möglich ist: In Dänemark wurde eine hohe Mobilität zwischen verschiedenen Jobs durch enorme Qualifizierungsanstrengungen erreicht, die Beschäftigten mussten trotz der hohen Wechselraten kaum Einkommensverluste hinnehmen. Die Politik steht also keineswegs ohnmächtig da.
Die negativen Effekte der Flexibilisierung ausgleichen
Um den bisher sehr engen Zusammenhang zwischen mehr Flexibilität und weniger sozialer Sicherheit aufzubrechen, müsste das Augenmerk nationaler Flexicurity-Konzepte nach Ansicht der WSI-Forscher stärker darauf gerichtet werden, die negative Effekte der Flexibilisierung zu kompensieren. Ungeachtet länderspezifischer Besonderheiten geht es hierbei um die Gleichbehandlung sämtlicher Beschäftigungsformen bei Lohn, Zugang zu beruflicher Weiterbildung und Integration in soziale Sicherungssysteme, um gleichrangigen Zugriff auf arbeitsmarktpolitische Hilfen bei Beschäftigungsübergängen und um eine ausreichenden Grundsicherung in der Nacherwerbsphase.
Nimmt man dies als Maßstab, bleibt für Deutschland reichlich zu tun – beginnend beim immer noch nicht vollzogenen Abschied von der herrschenden Meinung, dass es hierzulande angesichts eines vermeintlich noch immer dicht geknüpften sozialen Netzes nur um noch mehr Flexibilität gehen könne. So wurde in Deutschland in der rot-grünen Regierungszeit der Kündigungsschutz gelockert, andererseits geringfügige Beschäftigung ohne Sozialversicherungsschutz aber massiv ausgeweitet. Ausgaben für Bildung im Bereich der Arbeitsmarktpolitik wurden massiv beschnitten. Auch in den Unternehmen wird außerhalb der Kernbelegschaften heute nur wenig qualifiziert. Vor allem die „Hartz-IV-Reformen“ sorgten aber bekanntlich dafür, dass Millionen Menschen bei Erwerbslosigkeit mit raschen und teils radikalen finanziellen Einschnitten noch schneller in den sozialen Abstieg geraten als zuvor.
Eine Gesellschaft, die sich statt einer offenen Diskussion über arbeitsmarktpolitische Alternativen sowie die Möglichkeiten und Grenzen von „Flexicurity“ durch Medien und Eliten seit Jahren immer wieder Missbrauchsdebatten aufschwatzen lässt, hat bis auf Weiteres kaum Chancen, mit diesem Begriff glaubwürdige Politik zu machen.
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