Der erste Akt

Schwarz-Gelb Das Schlimmste steht uns noch bevor: Kanzlerin Merkel gibt ihre erste Regierungserklärung nach dem Machtwechsel ab. Einige Akteure suchen noch ihre Rolle.

Die Regierungsbank im Berliner Reichstagsgebäude ist voll besetzt als Angela Merkel um Punkt elf Uhr ans Rednerpult tritt. Gerade hat Bundestagspräsident Norbert Lammert die dritte Sitzung des 17. Deutschen Bundestages eröffnet – nach Konstituierung und der Wahl der Bundeskanzlerin „geht jetzt der Parlamentsbetrieb richtig los“, hatte er noch verkündet. Das ist auch bitter nötig.

Schließlich liegen schon fast zwei Wochen zwischen Merkels zweiter Vereidigung und ihrer ersten Regierungserklärung als Kanzlerin einer schwarz-gelben Regierung. Von einer „Missachtung des Parlaments“ hatte die Opposition deshalb schon gesprochen. Kein Vorwurf, den man einfach so wegwischt. Vielleicht auch deshalb sind alle vier Regierungsreihen links des Bundestagspräsidiums bis auf den letzten Platz besetzt.

Das Bild, das die Kanzlerin dann zeichnet, ist düster. Die Arbeitslosigkeit werde weiter steigen, sagt sie, genau wie das Haushaltsdefizit. „Es wird schlimmer bevor es besser wird“, fasst sie zusammen, begleitet vom noch verhaltenen Applaus der Regierungsfraktionen.


Überhaupt halten sich die Parlamentarier noch zurück. Union und FDP quittieren fast jede Ankündigung mit höflichem Beifall, von der linken Seite des Plenums ist hingegen bis auf das gelegentliche „Ohoo“ nichts zu vernehmen. Die Sozis in den hinteren Sitzreihen spielen mit ihren iPhones, lesen den Pressespiegel oder diskutieren das letzte Spiel von Bayern München. In der ersten Bank der Grünenfraktion rutscht derweil Jürgen Trittin auf seinem Stuhl hin und her, bis seine Co-Vorsitzende Renate Künast ihn unauffällig zur Ordnung ruft.

Erst als Merkel auf die geplante Steuerpolitik der Koalition zu sprechen kommt, wallen die Emotionen auf. Der schwarz-gelbe Applaus donnert nur so durch das Plenum als Merkel sich auf lange Sicht von einem ausgeglichenen Haushalt zu Gunsten von Steuersenkungen verabschiedet. Und auch die Zwischenrufe der Opposition werden plötzlich lauter. Als Merkel schließlich nach einer Stunde das Rednerpult verlässt und Lammert SPD-Fraktionschef Steinmeier das Wort erteilt, kocht der Saal.


Doch Steinmeier wäre nicht Steinmeier, wenn er den Druck nicht ganz schnell aus dem Kessel ablassen würde. Zwar startet der frischgebackene Oppositionsführer polternd wie zu besten Wahlkampfzeiten, doch nach ein paar Rundumschlägen sind seine gefürchteten Endlossätze wieder da. Derweil kämpft ein FDP-Abgeordneter mit einer übergroßen Tageszeitung, während Sahra Wagenknecht von der Linken sichtlich gelangweilt ihren Kopf nur noch mit beiden Händen oben behält. Noch-SPD-Chef Franz Müntefering starrt regungslos nach vorne aufs Rednerpult.

Wie man’s richtig macht kann sich Steinmeier rund eine Stunde später bei Jürgen Trittin abschauen. Der Spitzengrüne verliert keine Zeit mit Nettigkeiten. Von einer „Revivalband“ spricht er, die das Stück wieder aufführen wolle, für das Kohl 1998 abgewählt wurde. Dem Koalitionsvertrag verpasst er die Überschrift „Mut zum Prüfantrag“ und rechnet der FDP vor, dass ihre „soziale Maßnahme“, nämlich das Anheben des Schonvermögens bei Hartz IV-Empfängern, gerade einmal für 0,2 Prozent der Anträge relevant sei. Dann prügelt Trittin noch auf Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel ein und verlässt schließlich unter dem Jubel der Oppositionsfraktionen das Rednerpult.


So schafft ausgerechnet die kleinste Oppositionspartei das rot-rot-grüne Lager zumindest für diese Sitzung zu vereinen. Daran war zuvor nach SPD-Fraktionschef Steinmeier auch Oskar Lafontaine gescheitert. Zwar lieferte der Linken-Vorsitzende eine kämpferische Rede, doch das Plenum ignorierte seinen Auftritt demonstrativ. Die Reihen der SPD-Fraktion lichteten sich zunehmend während auf der Regierungsbank fast alle Minister auf einmal Akten zu bearbeiten hatten. Einzig die Linken-Fraktion unterstützte ihren Genossen. Jeden seiner Halbsätze quittierte sie geschlossen mit Applaus. Der Rest des Plenums blieb dagegen meist stumm. Nur manchmal trauten sich ein paar SPD-Hinterbänkler und einige Grüne um den Kreuzberger Abgeordneten Hans-Christian Ströbele leise mitzuklatschen.

An soviel Einigkeit hätte sich die FDP ein Beispiel nehmen können. Sie ließen ihre frisch gewählte Fraktionschefin Birgit Homburger zeitweise im Regen stehen. Viele in der Fraktion sehnten sich in dieser langen halben Stunde wohl nach Guido Westerwelle zurück. Der durfte aber nicht ans Rednerpult, sondern beobachtete demonstrativ Aufmerksam den Auftritt seiner Nachfolgerin von der Regierungsbank – bis auch er es nicht mehr aushielt und mit Kanzlerin Merkel die Köpfe zusammen steckte.

Farbe brachte dagegen noch Volker Kauder ins Plenum. Als letzter der Fraktionsvorsitzenden beendete er die Elefantenrunde mit einem Knall. Er warf der SPD mit Blick auf die rot-rote Koalition in Brandenburg vor, sich mit der Bürgerrechtsbewegung der DDR zu „entsolidarisieren“. Schließlich sitze da jetzt „die Stasi mit am Regierungstisch“. Der zu erwartende Aufschrei blieb allerdings verhalten. Zu viele Abgeordnete hatten das Plenum bereits verlassen.

Zeit genug für Reaktionen ist freilich noch – die Aussprache zur Regierungserklärung dauert schließlich noch die ganze Woche.

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