„Fassungslos und entsetzt“ - man hätte jemandem wie Hartmut Mehdorn solche Gemütsregungen gar nicht zugetraut. Als der umstrittene Vorstandschef heute Mittag bei der Vorstellung der Bahn-Bilanz diese Worte sprach, ging es freilich auch nicht um ein Eingeständnis seiner Verantwortung in der Datenaffäre. Was der Bahn-Chef beklagte war etwas anderes. Es ging um die Rolle der Hersteller von schadhaften ICE-Achsen, die der Bahn das Leben so schwer machten. Noch im letzten Moment blieb er bei seiner Linie: Schuld sind immer die anderen. Kurz darauf gab Mehdorn seinen Rücktritt bekannt.
Noch vor anderthalb Tagen hatte derselbe Mann erklärt, er sehe keinen Grund dafür, sein Amt abzugeben. Der dann einsetzende Sinneswandel hat sicher viel mit dem öffentlichen Druck in den vergangenen 36 Stunden und den Machtmechanismen in der Bundespolitik zu tun – vor allem damit, dass die Union ein längeres Festhalten an Mehdorn inzwischen als ein zu großes Risiko im Wahlkampf einschätzte. Der Abgang des Bahnchefs am Ende einer Bilanzpressekonferenz, auf der der Konzern trotz der Wirtschaftskrise einen Milliardengewinn präsentieren konnte, hätte allerdings auch keine bessere Bühne für einen Mann wie Mehdorn sein können. Seht her, wen ihr zum Rücktritt drängt, lautete die Botschaft: Die erfolgreiche Bahn - das bin ich.
Mehdorns Schritt ist der vorläufige Höhepunkt einer monatelangen Diskussion mit vielen Facetten. Noch am Montagmorgen war die Frage, wann der Bahnchef seinen Hut nehmen würde, Gegenstand einer typischen Berliner Diskussion. Eigentlich hatte niemand mehr den Mann für tragbar erachtet – und trotzdem wurde um Mehdorns Ablösung gefeilscht, wurde hier verzögert und dort beschleunigt. Es ging und geht dabei um Wahlkampf und um koalitionstaktische Erwägungen. Darum, sich nicht von einer anderen Partei die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Spielte die Datenaffäre dabei eine Rolle? Oder die Überwachung des E-Mail-Verkehrs der Bahn-Mitarbeiter? Eher nicht. Aber das ist nur eine Seite der Diskussion.
Es gibt noch zwei weitere Seiten. Da wäre einmal die juristische Aufklärung der Affäre. Wenn Hartmut Mehdorn sagt, der von ihm geführte Staatskonzern habe nicht gegen Gesetze verstoßen, ist das nicht verwunderlich. Aber es bleiben viele Fragen offen: Sind massenhaft Emails etwa gerastert worden, um sie dann ungeöffnet zu lassen? Auf welche Weise diente das Löschen eines gewerkschaftlichen Streikaufrufs der Korruptionsbekämpfung? Und schließlich: Was wusste Mehdorn von alledem? Seine Erklärung hatte die typische Zutaten eines politischen Rücktritts: Ja, er übernehme die Gesamtverantwortung. Nein, er habe sich persönlich nichts vorzuwerfen. Und natürlich muss ausgerechnet der Mann, der die Aufklärung des immer weiter wuchernden Datenskandals immer wieder behindert hat, jetzt behaupten, eine sachliche Aufarbeitung sei in der aufgeheizten Diskussion nicht möglich. „Auch wenn ich mir persönlich nichts Unrechtes vorzuwerfen habe und mit mir im Reinen bin, so gilt es nun zu allererst, diese schlimmen, ja zerstörerischen Debatten für die Bahn zu beenden“, heißt es in Mehdorns Rücktrittserklärung. Wer sich an dieser Stelle an die zurückgezogene Kandidatur des Kölner CDU-Oberbürgermeisters Fritz Schramma erinnert, liegt ganz richtig. Auch der wollte Schaden abwenden, nachdem er entstanden war.
Überhebliche Entrücktheit
Bei Mehdorn kommt noch hinzu: Hier beklagt ein Brandstifter die Feuerschäden. Dabei ist es gar nicht so, dass eine „sachliche Aufklärung“ überhaupt nicht stattgefunden hätte. Nur eben nicht so, wie es sich Mehdorn vorgestellt hätte. Man braucht nur kurz auf die Rolle der Medien hinzuweisen, die immer neue Details der Affäre ans Licht brachten. Sie konnten sich dabei auf die Ergebnisse einer Untersuchung stützen, die längst im Gange war – auch wenn man ihren bisherigen Fortgang für zu zögerlich halten konnte. Von der internen Untersuchung über die vom Aufsichtsrat eingesetzten Sonderermittler bis zurRücktritt Mehdorns dauerte es Wochen.
Die dritte Seite der Diskussion um die Vorgänge bei der Bahn betrifft die Zukunft des Konzerns. Die Affäre Mehdorn mag ein ungeheuerlicher Skandal sein, ein Beleg für eine autokratische Unternehmenskultur und ein fast schon peinliches Beispiel der überheblichen Entrücktheit eines Managers. Womöglich besteht sogar eine, wenn auch geringe, Chance, dass der Fall dazu beiträgt, den Beschäftigtendatenschutz zu verbessern und die Öffentlichkeit für informationelle Belange der Lohnarbeit zu sensibilisieren.
Viel entscheidender aber noch fällt mit der Personalie Mehdorn die Frage zusammen, welche Bahn die Bundesrepublik in Zukunft haben wird – eine der Bürger oder einer der Börsen? Mit dem Vorstandschef stürzt immerhin das Fleisch gewordene Monument des geplanten Börsenganges. Das weiß der Konzernlenker selbst am besten. Es war ja keineswegs ein Ablenkungsmanöver von der Datenaffäre und schon gar keine Verschwörungstheorie, als Mehdorn noch kurz vor seinem Rücktritt erklärte: „Offenbar haben einige das Ziel, den eingeschlagenen Kurs der DB zu torpedieren.“ Mit „einige“ meinte der Bahnchef nicht nur die SPD-Linke, sondern vor allem eine Mehrheit der Bundesbürger, die sich in Umfragen gegen die von Mehdorn vorangetriebene Teilprivatisierung der Bahn aussprechen. So betrachtet ist der Rücktritt des Vorstandschefs sogar ein demokratischer Akt – allerdings einer „aus Versehen“.
Es wird nun viel davon abhängen, wie sich innerhalb der SPD die Kräfteverhältnisse zwischen Privatisierungsgegnern und Verkaufsbefürwortern entwickeln, welche Deals es in der zerstrittenen Koalition bei der Findung eines Nachfolgers geben wird und ob sich die Gewerkschaften für Jobzusagen ihren Schneid abkaufen lassen. All die anderen Kritiker Mehdorns und seiner Privatisierungspläne sollten den Abgang deshalb nicht als Zielankunft verstehen, sondern als Aufforderung weiterzumachen. Der Kampf um eine öffentliche Bahn geht in eine nächste Runde, auch ohne Mehdorn. Und diese Runde wird entscheidend sein.
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