Wenn man bedenkt, dass es sich bei dem gesuchten Atommüll-Endlager um die mit Abstand gefährlichste Anhäufung tödlicher Stoffe in Deutschland handeln wird, ist der unseriöse Umgang damit vor dreißig Jahren schwer nachvollziehbar. Der vom Bundestag eingesetzte Untersuchungsausschuss und in den letzten Monaten an die Öffentlichkeit gelangte Dokumente offenbaren, dass die Gorleben-Findung mit einer wissenschaftlich abgesicherten Endlagersuche nichts zu tun hatte. Das hervorstechende treibende Motiv dafür, im Bewusstsein seiner gravierenden Mängel auf Gorleben zu setzen, war Ende der siebziger Jahre, dass der Entsorgungsnotstand so drückend wurde, dass ohne Gorleben das gesamte Atomprogramm zu kippen drohte.
Der Strahlenmüll geriet damals zusehends ins Blickfeld der Öffentlichkeit. Die Asse, wo man seit 1967 Atommüll versenkt hatte, ging 1978 als Atomklo verlustig. Um die im Bau befindlichen AKWs wurde überall vor Gericht gestritten.
Das Parlament hatte 1976 unter dem Druck der öffentlichen Meinung ins Atomgesetz die Pflicht zur Verwertung und Beseitigung der Abfälle aufgenommen. In den "Grundsätzen zur Entsorgungsvorsorge für Kernkraftwerke" wurde 1977 festgehalten, dass der Neubau von AKWs an Fortschritte bei Erkundung und Erschließung eines Endlagers gekoppelt ist. Damit diese "Entsorgungsvorsorgepflicht" als erfüllt angesehen werden konnte, brauchte man zumindest Indizien dafür, dass ein Endlager für hochradioaktive Abfälle in absehbarer Zeit zur Verfügung stehen würde. Zwischen 1977 und 2008 wurde Gorleben in insgesamt 90 Genehmigungsbescheiden als Entsorgungsnachweis benannt.
Primat der Wahlaussichten
Die Endlagersuche lief von Beginn an unseriös ab. Ab 1973 untersuchte die Firma KEWA für die Bundesregierung 26 potentielle Atomlager. Drei Standorte in Niedersachsen wurden als grundsätzlich geeignet bewertet: Wahn, Lichtenhorst und Lutterloh. Gorleben war nicht einmal erwähnt. Als an den drei favorisierten Standorten bekannt wurde, was man vorhatte, gab es heftige Entrüstung. Der Widerstand bewirkte ein regelrechtes Wunder. Die Landtagswahl im Juni 1978 stand bevor. Das Emsland mit seinem CDU-Wählerpotential zu verlieren, kam für den CDU-Ministerpräsidenten Ernst Albrecht nicht in Frage. Die als Favoriten gehandelten Standorte wurden sang- und klanglos fallengelassen.
Völlig überraschend brachte Albrecht im November 1976 den Salzstock Gorleben ins Spiel, den bis dahin niemand als geeigneten Lagerort für Atommüll betrachtete. Inzwischen zugängliche Dokumente belegen, dass auch im Landeskabinett an der Eignung gezweifelt wurde. In einer Vorlage des niedersächsischen Wirtschaftsministerium wird im Dezember 1976 festgehalten, dass alle strukturellen Indikatoren im Gorleben-Standort Lüchow-Dannenberg "mit stark negativer Tendenz vom Landesdurchschnitt" abweichen. Durchsetzen konnten sich solche Stimmen nicht.
Heute wissen wir, dass auch die Schmidt-Genscher-Regierung hinter den Kulissen zunächst versuchte, den Ministerpräsidenten Albrecht von Gorleben abzubringen. Offensichtlich hielt die Regierung Schmidt aber ein Atom-Endlager mit Ach und Krach und mit Mängeln für besser als gar kein Endlager. Am 22. Februar 1977 gab Albrecht bekannt, dass Gorleben als Standort für die Entsorgungsanlage vorgesehen sei.
Der Atomstaat frisst demokratische Gepflogenheiten
Obwohl allen Beteiligten klar sein musste, dass ein diffiziles Gebilde wie ein Lager für jahrtausendelang tödlich strahlenden Atommüll nach den hohen Anforderungen des Atomrechts beurteilt werden musste, war die Verlockung groß, beim Genehmigungsverfahren auf das industriefreundliche Bergrecht zurückzugreifen. Beim Atomrecht hätte zwingend die Öffentlichkeit beteiligt werden müssen, auch die Frage nach alternativen Standorten wäre aufgeworfen. Niedersachsen drohte, das Angebot Gorleben zurückzuziehen, falls die Bundesregierung nach Atomrecht vorgehe. Kurz darauf stellte der Bundesinnenminister seine rechtlichen Bedenken hintan : "Ich bin bereit, mich Ihrer Auffassung anzuschließen", ließ Gerhard Baum mitteilen.
Im Untersuchungsausschuss hat der Zeuge August Hanning, der von 1981 bis 1986 im Bundeskanzleramt mit Gorleben befasst war (und später Chef des Bundesnachrichtendienstes BND wurde) offen erklärt, dass man im Kanzleramt sowohl unter Schmidt als auch unter Kohl eigentlich für einen Standortvergleich gewesen sei. Auch er selbst habe gewusst, dass Gorleben "kein optimaler Standort" sei. Hanning offenbarte als eigentlichen Grund für die Wahl Gorlebens, dass man für den Bau von Kernkraftwerken einen Entsorgungsvorsorgenachweis erbringen musste. Da aus keinem Bundesland weitere Vorschläge gekommen seien, habe man schließlich die alleinige Erkundung Gorlebens befürwortet.
Auch der damals zuständige Referent im Bundeskanzleramt Wolf von Osten bestätigte , dass man Gorleben ”durchzudrücken“ versuchte, obwohl die Skepsis über Gorleben wegen Problemen mit der Deckschicht und Wassereinbrüchen groß war. Sowohl unter Schmidt als auch unter Kohl habe das Motto geherrscht: „Augen zu und durch.“
Am 1. Oktober 1982 wurde Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt. Noch vehementer als unter Helmut Schmidt wurde nun auch seitens des Bundes auf Gorleben gesetzt. Der fehlende Fortschritt beim Atomendlager gefährdete damals die Inbetriebnahme der Meiler in Brokdorf, Emsland und Neckarwestheim 2.
Bedenken weggeschrubbt
Deutlich wurde im bisherigen Verlauf des Untersuchungsausschusses, dass die vor dreißig Jahren damit befassten Wissenschaftler massive Bedenken gegen die Festlegung auf Gorleben formulierten. Der renommierte Quartärgeologe Professor Klaus Duphorn, sagte im Untersuchungsausschuss aus, dass bei der Erforschung Gorlebens immer mehr gegen die Eignung des Salstocks als Endlager sprach, je tiefer sein Team damals gebohrt habe. Akten mit Erkenntnissen zur Nichteignung von Gorleben seien 20 Jahre unter Verschluss gehalten worden.
Dr. Helmut Röthemeyer, 1983 als Abteilungsleiter der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) maßgeblich mit einem entscheidenden wissenschaftlichen Gutachten zur untertägigen Erkundung Gorlebens befasst, schilderte im UA das Schlüsselereignis am 11. Mai 1983. An diesem Tag trafen sich Wissenschaftler aus PTB, Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) und der Deutschen Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Endlagern für Abfallstoffe (DBE) zu einer fachlichen Besprechung. Zur Überraschung der Wissenschaftler erschienen unangemeldet Vertreter des Bundesinnen- und Bundesforschungsministeriums und des Kanzleramts, die den Wissenschaftlern einen Maulkorb verpassten und die PTB zwangen, sich öffentlich auf Gorleben als einzigen Erkundungsstandort festzulegen.
Die Verlängerung der AKW-Laufzeiten ist schon wegen der ungelösten Entsorgung rechtswidrig. Als Entsorgungsvorsorge können CDU/CSU und FDP nur auf den Uralt- Beschluss zu Gorleben verweisen. Noch heute muss der im Juli 1977 von der PTB gestellte Antrag zur Einleitung eines atomrechtlichen Planfeststellungsverfahrens als Beweis für die Erfüllung der Entsorgungspflicht herhalten. Bald werden sich die Gerichte mit Gorleben befassen. Dass die Justiz diese Machenschaften mit einem okay adelt, ist nach den jetzt an die Öffentlichkeit gekommenen Fakten kaum vorstellbar.
Sylvia Kotting-Uhl, Jahrgang 1952, ist atompolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Bundestag.
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