Energie aus Müll

Grüner Export Türkische Kommunen haben ein Abfallproblem. Und Erhan Gencer, Energieberater aus Freiburg im Breisgau, weiß, wie man es lösen kann

Taksim-Platz mitten in Istanbul. Geschiebe, Gedränge, Verkehrschaos. Erhan Gencer wartet am Rande des belebten Runds in seinem Ford. Schon stürzen wir uns in den ziemlich lebendigen Istanbuler Feierabendverkehr. „Es gibt so ein Naturgesetz“, sagt er, „Löcher werden immer sofort gefüllt. So ist das auch mit dem Verkehr in Istanbul.“ Kaum entsteht eine Lücke, wird sie auch wieder zugefahren. Bremsen. Spurwechsel. Gas geben.

Erhan Gencer navigiert souverän durch die vollgestopften Straßen. Stopp. Bremslichter leuchten abrupt auf. Gas. Nicht schlecht für einen Mann, der eigentlich aus dem beschaulichen Freiburg im Breisgau kommt, noch dazu aus dem Ökoviertel Vauban – einem autofreien Modellstadtteil, wo Tempo vierzig schon als besonders verwegen gilt. Gas. Bremsen. Neue Spur. Seit zwei Jahren schon verbringt der 60 Jahre alte Freiburger, der in Istanbul aufwuchs, die meiste Zeit in der Türkei und kommt nur noch einmal im Monat nach Deutschland.

Erhan Gencers Wechsel vom alternativ angehauchten Freiburg in die türkische Metropole mit ihren 16 Millionen Einwohnern hat vor allem mit grünen Technologien zu tun. Denn die Türkei hat ein Müllproblem , ein riesiges Müllproblem. Und Erhan Gencer, gelernter Stadtplaner, Architekt und Energieberater, hat ein vernünftiges Konzept, wie man das Problem – zumindest einen Teil davon – lösen kann.

Nur 17 ordentliche Deponien im ganzen Land

Seitenwechsel. Wir fahren über die Fatih Sultan Mehmet Köprüsü, eine von zwei großen Brücken über den Bosporus, in den asiatischen Teil der Stadt. Istanbul ist, so beschreibt es zumindest die Europäische Umweltagentur in ihrem jüngsten Lagebericht zur Umwelt in Europa, die einzige große Stadt mit einem ordnungsgemäßen Abfallsammel- und Abfallwirtschaftssystem in der Türkei. Ansonsten werden eben Lücken gefüllt: Schätzungsweise 70 Prozent aller Siedlungsabfälle landen in unkontrollierten oder illegalen Stätten, da es im gesamten Land nur 17 geordnete Deponien, vier Kompostierungsanlagen und eine Verbrennungsanlage gibt, die die gesetzlichen Anforderungen erfüllen. Stopp. Spurwechsel.

„In der Türkei gelten seit einigen Jahren strengere Abfallvorschriften“, erklärt Gencer „nur wurden sie bislang nicht umgesetzt.“ Inzwischen jedoch sind türkische Kommunen, die in dem Land für die Abfallentsorgung zuständig sind, unter Druck geraten. Im Jahr 2006 trat in der Türkei ein Umweltgesetz in Kraft, das die Anlage von geregelten Mülldeponien nach Normen der Europäischen Union vorschreibt – nicht irgendwann soll das geschehen, sondern recht bald schon: Die Fristen ergeben sich aus der Einwohnerzahl der jeweiligen Orte. Für Städte mit über 100.000 Einwohnern läuft diese Frist im Mai 2010 ab. Die Deadline für Gemeinden mit bis zu 10.000 Menschen ist im Jahr 2017, alle anderen liegen irgendwo dazwischen.

EU setzt Gemeinden unter Zugzwang

Also Gas geben. Bloß wie? Schließlich verfügen die Kommunen oft nur über geringe Finanzierungsmittel für Neuinvestitionen. Sie sind daher bei der Umsetzung auf Know-how und finanzielle Unterstützung von außen angewiesen. Es geht dabei um gewaltige Summen, denn um die Umweltinfrastruktur in den Bereichen Abfall, Abwasser und Luft auf EU-Standards zu bringen, müssen in der Türkei rund 58 Milliarden Euro investiert werden, das zumindest besagt die aktuelle „Türkeistudie“ der österreichischen Gesellschaft für Umwelt und Technik. Etwa 4.000 türkische Gemeinden stehen durch die Gesetzgebung unter Zugzwang. Aus Systemen einfacher Abfallentsorgung sollen künftig moderne Müllmanagement-Konzepte entstehen. Eine Kehrtwende.

„Derzeit boomt der Bau von geregelten Erddeponien in der Türkei“, sagt Gencer. „Doch das kann ja nicht die Lösung sein. Wirtschaftlich gesehen ist das eine absolute Verschwendung. Der Müll wird nicht verwertet, sondern eben einfach nur deponiert.“ Den Weg weisen könnte ein Pilotprojekt im Bezirk Pamukova, 180 Kilometer östlich von Istanbul. Die gleichnamige Stadt zählt 15.000 Einwohner, deren Umland, berichtet Erhan Gencer, ist besonders durch die Landwirtschaft geprägt. Neben dem normalen Hausmüll der Stadt fallen daher besonders viele pflanzliche Reststoffe, aber auch Abfälle aus Rindermast und Geflügelzucht an.

Lücke in der Provinz

Energieberater Gencer aus Freiburg hat seine Lücke in der türkischen Provinz gefunden, im Bezirk Pamukova, 180 Kilometer östlich von Istanbul. Mit Technologie aus Deutschland will er hier eine Anlage verwirklichen, die es „so noch nirgendwo gibt. Ziel ist es, den Müll optimal zu verwerten und die Restmenge, die auf der Deponie landet, drastisch zu verringern“, sagt Gencer. Nur noch ein Fünftel der bisherigen Menge soll am Ende deponiert werden.
Mehrere Gemeinden des Bezirks haben sich inzwischen dem Projekt angeschlossen, von dem sie sich eine Lösung ihrer Müllprobleme erhoffen. Der Einzugsbereich der Anlage umfasst nach Angaben von Gencer jetzt schon etwa 80.000 Einwohner, die Anlage hat eine Kapazität von 40.000 Tonnen Abfall pro Jahr. Investiert werden rund 12 Millionen Euro, 50 Arbeitsplätze sollen vor Ort entstehen. Das Projekt soll durch Public-Private-Partnership und später durch Müllgebühren finanziert werden.

Neu sind nicht die Technologien. Neu ist, dass alle zusammen an einem Ort verwirklicht werden. Das Prinzip ist einfach: Zunächst wird der Gemeindeabfall eingesammelt, sauber getrennt – soweit die Theorie. Die organischen Reststoffe werden vorbehandelt, ehe sie gemeinsam mit den landwirtschaftlichen Abfällen in einer Biogasanlage landen. Aus dem Müll wird so Energie, sagt Gencer. Um genau zu sein: 8,5 Gigawattstunden Strom, mit denen jedes Jahr rund 5.000 Haushalte mit Energie versorgt werden können, so zumindest erwarten es Gencer und seine Projektpartner aus Freiburg. Die ebenfalls entstehenden sieben Gigawattstunden Wärme sollen in Kälte für Kühlhäuser umgewandelt werden: „Das wiederum nutzt der Landwirtschaft in der Region, deren Produkte dann länger aufbewahrt werden können“, sagt Gencer.

Was dann noch an organischen Stoffen übrig ist, soll als hochwertiger Dünger auf genau jenen Feldern landen, deren Früchte dereinst in den neuen Kühlhäusern gelagert werden. Geplant ist außerdem ein Versuchsgewächshaus, in dem CO2 aus der Anlage mit Hilfe der Restwärme in Biomasse umgewandelt werden soll. „Wir versuchen eben, alle Kreise zu schließen“, sagt Gencer. Ende 2010 soll die Anlage in Betrieb gehen – dann wird sich zeigen, ob der grüne Kreislauf in der türkischen Provinz tatsächlich zum Laufen gebracht wird. Vor Interessenten an dem Konzept kann er sich zumindest jetzt schon nicht mehr retten. Es würden ständig neue Gemeinden anfragen, sagt er. Und gibt Gas.

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