Debatte Bei der Studie von Wilkinson und Pickett winkt das linke Milieu hierzulande ab: alles längst bekannt. Die Debatte über „Gleichheit ist Glück“ sollte trotzdem stattfinden
Manche Phänomene sind schon sehr merkwürdig: Zwei britische Epidemiologen, Richard Wilkinson und Kate Pickett, schrieben eine empirische Studie über Gleichheit in verschiedenen Gesellschaften, die zunächst auf der Insel von Guardian bis Economist gefeiert wurde. Mittlerweile hat diese Woge auch Mitteleuropa erfasst: Wie Robert Misik konstatiert, hat schon lange kein Buch mehr in gesellschaftswissenschaftlich und politisch interessierten Kreisen eingeschlagen wie The Spirit Level, das auf Deutsch kürzlich unter dem unglücklich gewählten Titel Gleichheit ist Glückerschienen ist.
Ausgerechnet zwei bisher weithin unbekannte Naturwissenschaftler schaffen es, dass so unterschiedliche Institutionen wie die Rosa Luxemburg-Stiftung und die Zeitschrift Berline
zwei bisher weithin unbekannte Naturwissenschaftler schaffen es, dass so unterschiedliche Institutionen wie die Rosa Luxemburg-Stiftung und die Zeitschrift Berliner Republik, denen man sicher keine allzu große inhaltliche Nähe zuschreiben kann, derselben Ansicht sind: Dieses Buch wird quasi zur Pflichtlektüre erklärt und soll nun Debatten über die Ungleichheit in der Gesellschaft neu anfachen.Was steckt hinter diesem Hype? Ist es mehr als nur ein modisches „Buch der Saison“, das Gefahr läuft, spätestens nach zwei Bücherherbsten wieder vergessen zu sein? Oder befeuert es tatsächlich die überfälligen Debatten über die Schere zwischen Arm und Reich, die sich im vergangenen Jahrzehnt offensichtlich weiter öffnete, egal ob Rot-Grün, Schwarz-Rot oder Schwarz-Gelb regierte?Ausgebliebene DebatteIm Fünf-Parteien-System läuft es bisher doch immer wieder nach demselben Muster: Für den Mainstream der Gesellschaft war gesellschaftliche Gleichheit kaum ein Thema, es schien ausreichend, sich auf faire Rahmenbedingungen und die Schaffung von Chancengleichheit zu konzentrieren. Robert Misiks zugespitzter Rückblick trifft den Zeitgeist gut: Dem Begriff „Verteilungsgerechtigkeit“ haftete zuletzt der abgestandene Charme von Laminatfußböden an.Zwischendurch publizierten Ökonomen und Soziologen zwar einige fundierte Studien. Die Medien griffen zum Beispiel die aktuelle Publikation des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Juni 2010 auf und berichteten über das Schrumpfen der Mittelschicht angesichts einer Polarisierung der Einkommen. Zwei Tage später war das Thema aber schon wieder vom Tisch: Fußball-WM, Bundesversammlung und schwarz-gelbe Schimpftiraden waren interessanter.Man hatte sich schon daran gewöhnt und irgendwie schienen sich manche Beteiligte auch gut in dieser Nicht-Debatte eingerichtet zu haben. Der Beginn einer ernsthaften Debatte über soziale Ungleichheit in unserer Gesellschaft ist längst überfällig. Die offenen Fragen wurden von Ulrike Herrmann, Robert Misik, Patrick Diamond, Christian Füller, Knut Bergmann und Joachim Knodt in der aktuellen Ausgabe der Berliner Republik glasklar benannt: Wie muss sich das Bildungssystem ändern? Wie halten wir es mit dem Spitzensteuersatz und dem gesamten Steuersystem? Welche Konsequenzen hat es für das Gesundheitssystem? Was bedeutet der hehre Begriff der Gemeinwohlverpflichtung des Eigentums konkret?Sehr gut und fast zu schön, um wahr zu sein, wenn nun tatsächlich konstruktive Debatten der Linken Mitte in Deutschland zu diesen drängenden Herausforderungen beginnen sollten! Gerade der kriselnden SPD würde es sehr gut zu Gesicht stehen, sich stärker in den „Amsterdam“-Prozess einiger Schwesterparteien einzubringen, die europaweit genau diese Fragen zum Beispiel in diesem Essay von René Cuperus und Frans Becker seit einigen Jahren ausloten und im Herbst bei ihrer nächsten Konferenz in Berlin zu Gast sein werden: Wie können die Finanzmärkte reguliert werden? Wie sieht eine faire Lastenverteilung in der Gesellschaft aus?Raus aus der Retro-EckeAber nun drängt sich doch die Frage auf: Warum wurde die Debatte durch zwei britische Epidemiologen belebt, die mit ihrer Studie empirische Erkenntnisse aus ihrer Fachdisziplin auswerteten? Es ist doch traurig, dass es erst eines – noch dazu fachfremden – Anstoßes von außen bedurfte, um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit aus der Retro-Ecke zurück ins Zentrum politischer und sozialwissenschaftlicher Auseinandersetzungen zu holen.Diese Frage stellt sich besonders, wenn man das bejubelte Buch noch genauer unter die Lupe nimmt. Zugegeben: Das Forschungsdesign, zahlreiche Parameter in den Gesellschaften empirisch auszuwerten und zu vergleichen, ist anspruchsvoll. Auch ihr Ergebnis, dass Gesellschaften, die keine zu großen Statusunterschiede zulassen und Deklassierung erfolgreich bekämpfen, in allen untersuchten Bereichen überlegen sind, ist lesenswert.Sind die Ergebnisse der Wissenschaftler aber tatsächlich so grundlegend neu? Die Freitag-Community hat in den vergangenen Tagen schon darauf hingewiesen: „Nichts, was man nicht schon längst gewusst hätte“, kommentiert Peter Bayer, Technixer schreibt: „So wahr die Erkenntnisse der Studie sein mögen, solche soziologischen Ursache-Wirkmechanismen sind doch schon länger bekannt. Ändert sich etwas? Nein!“ Donda verweist darauf, dass es „nur die empirisierte, leicht modernisierte, etwas weichgespülte Version“ von Problemen sei, die bereits Marx ausführlich behandelt hat.Lernen von den Alten Mein Eindruck war sehr ähnlich. Außerdem erinnerten mich sowohl der breite empirische Forschungsansatz als auch die Ergebnisse an ein Buch, das von vielen als der Text gesehen wird, der die Politikwissenschaft begründete und die politische Theorie über die Jahrtausende hinweg als wichtiger Referenzpunkt prägte: Aristoteles untersuchte in seiner „Politik“ in einem ähnlich akribischen Sammeleifer wie Wilkinson/Pickett mit den bescheideneren Mitteln seiner Zeit zahlreiche Staatsverfassungen in Theorie und Praxis. Von Karthago über Sparta und Athen analysiert er in teilweise ähnlich ermüdender Detailliertheit wie die Epidemiologen die Vor- und Nachteile der Modelle. Dabei treibt ihn dasselbe Erkenntnisinteresse wie die Verfasser der aktuellen Studie: Was garantiert am besten die Stabilität einer Gesellschaft? Welche Staatsform sorgt dafür, dass alle Bürger ein „gutes Leben“ führen und Glück erreichen können?Auch im Ergebnis sind ihm die Briten sehr nah: Unter der Überschrift „Die Mitte als Richtlinie der besten Staatsverfassung“ folgert er aus seinen Studien, dass die soziale Balance in einer Gesellschaft möglichst ausgewogen sein muss: „In allen Staaten nun gibt es drei Teile des Staates: die recht Wohlhabenden, die recht Mittellosen und die, die in der Mitte von diesen stehen. Da nun also darüber Übereinstimmung erzielt wird, dass das rechte Maß und das Mittlere das Beste sind, ist offenbar auch der mittlere Besitz von Glücksgütern der beste von allen. (…) Füglich ist es klar, dass die staatsbürgerliche Gemeinschaft die beste ist, die auf den Mittleren beruht, und derartige Staaten können gut verwaltet werden, in denen nun das Mittlere zahlreich ist und stärker besonders als die beiden anderen Teile, und wenn schon das nicht, wenigstens stärker als einer von beiden Teilen.“An die Arbeit! Glühende Verfechter der Altphilologie streiten mit Verve für die These, dass wesentliche Teile der Philosophie nur Fußnoten zu Plato und Aristoteles sind. Wahrscheinlich wäre eine solch zugespitzte These auch Aristoteles selbst unangenehm, wenn er sie im Grab zur Kenntnis nehmen könnte. Der zentrale Gedanke seiner Nikomachischen Ethik ist die Mesotes-Lehre: Der moralisch richtige Weg ist, eine Mitte zu wählen. Dies gilt für den Aufbau des Staates, aber auch für Verhaltensweisen. Weder Demut noch Hybris sind angebracht. Wahrscheinlich würde Aristoteles altersweise lächeln und sagen: Hmm, schon interessant, was die beiden Briten da im Jahr 2010 herausgefunden haben. Das ist eine schöne Ergänzung zu meinen Werken. Oder wie es in der Freitags-Community so treffend formuliert wurde: „Das klingt ja alles ganz gut, und wenn es linken Positionen in der Politik wieder mehr Rückhalt verschafft, soll mir das Recht sein.“Wie groß ist die Chance, dass nun tatsächlich eine Debatte beginnt, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich schließen lässt? Die Gefahr besteht jedenfalls, dass doch nichts vorangeht: Das aufklärerische und linke Milieu winkt ab, dass das alles doch längst bekannt sei. Der Hype könnte in den kommenden Monaten genauso schnell wieder abflauen wie die jüngste Hitzeperiode.Das Diskursmuster nutzenEine Chance, dies zu verhindern, könnte sich an folgenden Anknüpfungspunkten bieten: Da gerade die Verfechter eines Dritten Weges, die Pragmatiker im politischen Mainstream und die Ökonomen von ifo-Institut und Co. seit Jahren auf die Aussagekraft von Statistiken und ökonomischen Daten setzten und damit die Talkshows prägten, sollten wir diese Diskursmuster nutzen und die Debatte zu drehen versuchen: Was sagen die Vordenker der Agenda 2010 zu diesem Datenmaterial? Wie verhalten sich die Liberalen dazu? Welche Schlüsse zieht die Union daraus für ihre Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik?Außerdem muss in der Mittelschicht die Erkenntnis und die Sensibilität dafür geweckt werden, dass mehr soziale Gleichheit und Stabilität für alle und damit auch für sie selbst besser ist. Vor allem diese These rücken Wilkinson und Pickett ins Zentrum ihres Buches. Können ihre Beispiele aus dem Alltag dazu beitragen, dass das Lamentieren über Abstiegsängste und die Klischees über Hartz-IV-Familien in den Köpfen der Mittelschicht einer neuen Debatte weichen, mit welchen konkreten Instrumenten wir zu mehr Gleichheit in unserer Gesellschaft kommen? Ein neuer Versuch ist es jedenfalls wert.
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