Sichuan Ein Jahr nach dem schweren Erdbeben in der chinesischen Provinz Sichuan ist die Hälfte der Häuser wiederaufgebaut. Oft größer, aber nicht erdbebensicherer als zuvor
„Die Dorfbevölkerung ist mit Wahlen nicht sehr vertraut“, meint Xu Jian, „und es gibt viele Analphabeten“. Der Angestellte des staatlichen Armutsbüros der Provinz Sichuan ist gerade von einer Schulung für Repräsentanten von fast 400 Dörfern gekommen, die durch das Erdbeben vom 12. Mai 2008 unter die Armutsgrenze fielen. Er spricht gern über seine Arbeit: Zum Beispiel über die von ihm organisierte Versammlung der über tausend Einwohner des Dorfes Jialing im Kreis Jiange, mitten im Katastrophengebiet. Sie sollten entschieden, wo staatlicher Beistand gebraucht würde. „Wir haben deswegen mit getrockneten gelben Bohnen abstimmen lassen. Die konnten in kleinen Schüsseln vor den Zeichnungen abgelegt werden.“ Es
Es ergaben sich neun Themen, wovon Hausbau die meisten Stimmen erhielt (273 Bohnen), danach kamen Verdienst, Wege, Bewässerungsanlagen und Trinkwasserversorgung, Arztbesuche. Ganz am Schluss stand „Verbesserung der Umwelt“, mit neun Bohnen.Der Wiederaufbau der privaten Häuser gehört freilich nicht zur Kompetenz des Armutsbüros. Das macht das Bauministerium allein. Ländliche Haushalte mit bis zu drei Personen erhalten – falls ihre Häuser vollständig zerstört wurden – 16.000 Yuan. Bei fünf Personen und darüber sind es 22.000 Yuan. Die Auszahlung ist jedoch an Bedingungen geknüpft: Sie richtet sich nach dem Grad der Fertigstellung und ist zeitlich begrenzt, denn zunächst sollte der Wiederaufbau in drei Jahren abgeschlossen sein. Dann hieß es, die Unterstützung für Privathäuser auf dem Land liefe Ende 2008 aus – wodurch sich im bis November 2008 die Preise für Sand, Zement und Stahl fast verdoppelten und ein Ziegelsteins statt 1,7 bis zu sieben Jiao kostete.Holz wäre noch teurer Ein Jahr nach dem Erdbeben ist jetzt über die Hälfte der Privathäuser auf dem Land wieder aufgebaut, oft erheblich größer und schöner als zuvor, nur leider nicht erdbebensicherer. „Die sollten gar keine Ziegelsteine benutzen“, ereifert sich Christopher Lee, ein pensionierter Architekt aus San Francisco, der für eine US-Nichtregierungsorganisation (NGO) durch das Erdbebengebiet reist. „Ziegelsteine bröckeln sofort. In Kalifornien sieht man überhaupt keine Ziegelsteine mehr!“ Aber besseres Material – vor allem Holz – wäre noch teuerer gewesen.Obwohl die Wiederaufbau-Frist bis Ende 2009 verlängert wurde und die Preise daraufhin wieder sanken, reichten die Zuschüsse des Bauministeriums bei weitem nicht. Die Landbevölkerung musste sich verschulden, außerdem wegen der Zeitknappheit auf Einkommen durch Wanderarbeit in den Küstenprovinzen verzichten. Kein Wunder also, dass bei der Abstimmung in Jialing „Verdienstmöglichkeiten“ gleich nach „Hausbau“ kam. Besonders für Menschen, deren Durchschnittlichseinkommen unter 1.196 Yuan im Jahr, der aktuellen chinesischen Armutsgrenze, liegt.Auch Zang Lu, der Direktor des „Sichuaner Service-Koordinationsbüro für Freiwillige des Wiederaufbaus“ spricht gern über seine Arbeit: „Unser Ziel ist es, den verschiedenen im Wiederaufbaugebiet tätigen NGOs eine Plattform zu bieten“, erläutert er. Über 200 davon seien nach dem Beben nach Sichuan gekommen, aber die meisten sind schon wieder weg.Kopfschmerzen haben Zang Lu die Missionare bereitet, vor allem die Protestanten. „Aber es gab auch Spione – in dem Erdbebengebiet befinden sich eine Menge militärischer Einrichtungen. Manche haben sich unter dem Vorwand, sein wollten helfen dort eingeschlichen und fotografiert. Manche NGOs waren auch höchst unprofessionell. Und dann gab es noch die Aufrührer!“ Wen er damit genau meint, will Zang Lu nicht sagen. Wahrscheinlich vorrangig Einzelpersonen, die versuchten, Erdbebenopfer oder Hinterbliebene zu organisieren. Oder ihnen einzureden, die Entschädigungen (auf dem Land 8.000 Yuan pro Todesfall, in den Städten bis zu 140.000 Yuan) seien zu niedrig. Manchen werden die „Aufrührer“ das nicht erst einreden müssen: Wer wegen der staatlichen Bevölkerungspolitik nur ein Kind bekommen durfte und das während des Erdbebens in einer schlecht gebauten öffentlichen Schule verloren hat, wie viel Entschädigung wird der als angemessen empfinden?Im Gegensatz zu dem Eindruck, der in den westlichen Medien entstand, lässt sich allerdings gar nicht sagen, ob Schulen besonders betroffen waren. In den Zerstörungen vom Mai 2008 ist kein Muster zu erkennen. Oft blieb von einer Straßenseite nicht mehr als eine einzige Schutthalde, während die gegenüberliegenden Häuser, nur zehn Meter entfernt, noch stehen und nach dem Beben sogar wieder bezogen werden konnten. „Das lag an der Bodenbeschaffenheit, das macht einen großen Unterschied“, erklärt Christopher Lee dieses Phänomen. Niemand kann bestreiten, dass es Korruption gegeben hat. Aber wie viele Schulkinder vor einem Jahr solchen im Chinesischen als „Tofu-Brei“ bezeichneten Bauten zum Opfer gefallen sind, kann niemand beziffern. Was auch daran liegen mag, dass keine unabhängige Organisation im Wiederaufbaugebiet Daten erheben durfte. So erklärt sich auch, weshalb das „Sichuaner Service-Koordinationsbüro für Freiwillige des Wiederaufbaus“ einen Partner hat. „Die Hongkong Polytechnic University wollte im Erdbebengebiet eigenen Untersuchungen vornehmen, durfte damit aber nur mit einem lokalen Partner beginnen. Da fiel ihre Wahl auf uns“, erzählt Zang Lu. Uns – das ist in diesem Fall genommen die Jugendliga der KP Chinas, deren Emblem auch in dem Brief auftaucht, den die Hongkong Polytechnic University Ende April im ganzen Land verschickt hat, um genauere Informationen über die im Erdbebengebiet tätigen NGOs zu bekommen. Darin enthalten ein sechsseitiger Fragebogen, „nur zu Studienzwecken“, aber nicht anonym, in dem alles Mögliche abgefragt wird: Von Arbeitsinhalten, Registratur und Finanzierungsquellen bis hin zum Grad der Zufriedenheit mit der Katastrophenreaktion der chinesischen Zentralregierung.Selbst der fast 70-jährige Christopher Lee wurde auf seiner Reise durch Sichuan die ganze Zeit von einem schwarzen VW Santana begleitet, am Steuer eine junge Dame, die hervorragend Englisch sprach und sich als Mitarbeiterin des „Empfangsbüros“ vorstellte. Entsandt, sich um den ausländischen Gast zu kümmern. Obwohl Christopher Lee aus einer Familie von Überseechinesen stammt und selbst den Sichuan-Dialekt bestens versteht.Hätte die Regierung in Peking, anstatt die vielen schwarzen Santanas zu bemannen, lieber die Mittel für den privaten Hausbau erhöht: Dann hätte man mit gutem Gewissens auf dem Fragebogen der Hongkong Polytechnic University „zufrieden“ ankreuzen können. Wie das auch die meisten Menschen des Erdbebengebiets tun würden, wenn sie abstimmen dürften.
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