"Treinta", sagt der Mann mit dem verwaschenen blauen T-Shirt. Wir stehen auf dem Mittelstreifen der Paseo del Prado, der Hauptverkehrsader von Cienfuegos. Die Provinzhauptstadt liegt gut 230 Kilometer östlich von Havanna und zieht mit ihrer gut erhaltenen Altstadt aus der spanischen Kolonialzeit etliche Touristen an. "Treinta", sagt der junge Mann noch einmal, während amerikanische Oldtimer aus den sechziger Jahren und auch einige moderne Autos vorbei lärmen. 30 CUCs also will er haben. Dafür, dass er mich mit seinem Privatauto nach Santa Clara chauffiert. Ich nicke und wir gehen los, über die Straße und um die Ecke, dort wartet sein Gefährt – ein Lada, der mittlerweile nur noch eine alte Blechkiste auf vier Rädern ohne Innenverkleidung und Sicherheitsgurte ist.
Der junge Mann, Jerome heißt er, startet nun auf irgend eine Weise das mit blauer Farbe zusammengehaltene Vehikel und los geht die Fahrt in das 60 Kilometer entfernte Santa Clara, hin zum allgegenwärtigen Helden der kubanischen Revolution – zu Che Guevara, zum Mausoleum mit dem großen Che-Denkmal, unter dem die Gebeine des Revolutionärs und die von 38 seiner Genossen ruhen.
Die Fahrt über das Land zeigt die ganze Vielfalt an Fahrzeugen, mit denen die Kubaner fehlenden Busverbindungen begegnen: Auf der Landstraße tummeln sich Radfahrer, Pferdegespanne, Motorräder mit Seitenwagen, die farbenprächtigen Oldtimer, Lkw und die Erntemaschinen für das Zuckerrohr. Eine kubanische Besonderheit sind die so genannten Amarillos. Diese Männer mit ihren gelben Jäckchen stehen in den Dörfern an Straßenkreuzungen und passen auf, dass die vorbeifahrenden Autos, die einer staatlichen Organisation angehören, einen der vielen Wartenden mitnehmen. Denn die "botella", der Autostopp, ist für viele die einzige Möglichkeit, um vorwärts zu kommen. Man sieht deshalb an diesen Punkten Trauben von Menschen, die auf eine Mitfahrgelegenheit hoffen, manche winken den vorbeifahrenden Autos mit einem Geldschein zu.
Jerome hat mittlerweile erklärt, dass – wenn die Polizei kontrolliert – man sich als Freunde kenne. Vor einem Bahnübergang bremst er herunter, um langsam über die Schienen zu hoppeln, der alte Lada quietscht verdächtig. Am Straßenrand steht eine Frau mit sehr kurzem Rock. Jerome grüßt aus dem Auto heraus, später sagt er leicht grinsend: "Chica mala". Ein "schlechtes Mädchen", eine Prostituierte also. Offiziell gibt es die in Kuba nicht.
"Kuba ist ein gutes Land für Arme", hat ein deutschsprachiger Reiseführer einmal formuliert. Es gibt eine Grundversorgung an Lebensmitteln, die medizinische Versorgung ist weitaus besser als in den anderen lateinamerikanischen Ländern, das Studium kostenlos, die Eintrittskarte für eine kulturelle Veranstaltung billig. Aber wer Geld verdienen will, der tut sich schwer. Autos dürfen in Kuba nicht verkauft werden, es sei denn, an den Staat. Zwar kann man die Wohnung als Eigentum erwerben, darf sie aber nicht weiterverkaufen oder vererben. Der Besitz an Grund und Boden ist beschränkt. Erlaubt sind mittlerweile Privatgeschäfte und private Restaurants, doch der Staat kassiert hier fleißig Steuern.
Wenn Jerome für seine illegale Dienstleistung "Treinta" haben will, dann meint er CUCs, die Abkürzung für den konvertiblen kubanischen Peso, der ungefähr einem Euro entspricht. Die Gehälter der Kubaner aber werden in Nationalpesos ausgezahlt. Diese Existenz zweier Währungen hat gravierende Folgen, denn in all den schönen Restaurants, den besser ausgestatteten Supermärkten und Läden muss man mit CUCs bezahlen: Eine kleine Dose Bier kostet quasi einen Euro, ein Essen in einem Restaurant 15 Euro (beziehungsweise CUCs). Natürlich gibt es auch Läden und Kneipen, in denen man mit dem Nationalpeso bezahlen kann, nur das Angebot ist dort viel geringer. Die Folge sind gravierende Ungleichgewichte: Ein Arzt im Krankenhaus verdient umgerechnet gerade 15 CUCs im Monat. Das bekommt ein guter Kellner in einem der Touristen-Hotels schon mal in zwei Tagen zusammen. Von Jerome und seiner zweistündigen 30-CUC-Fahrt nach Santa Clara ganz zu schweigen. Zwar ist das Studium kostenlos, doch warum studieren, fragen sich viele junge Leute. Wenn dann der Lohn in einer Währung ausbezahlt wird, mit dem man höchstens die absoluten Grundbedürfnisse stillen kann. Ohne einen CUC in der Tasche, der gegen den Nationalpeso im Verhältnis 1 : 25 getauscht wird, hat man schlechte Karten.
Jugend-Idol und Quasi-Heiliger
In der Ferne taucht die Silhouette von Santa Clara auf, das in der Geschichte der kubanischen Revolution einen besonderen Platz einnimmt. Hier wurde im Dezember 1958 von den Guerilleros die entscheidende Schlacht gegen die Armee des kubanischen Diktators Batista geschlagen. Der Argentinier Ernesto Guevara führte die siegreiche Rebellentruppe an und sie brachte in Santa Clara auch einen Panzerzug zum Entgleisen, der Soldaten und Waffen in den ebenfalls umkämpften Osten der Insel bringen sollte. Am 31. Dezember fiel Santa Clara und am 8. Januar zog Fidel Castro in Havanna ein, der Beginn einer bis heute fünfzigjährigen Herrschaft.
Ernesto Guevara ist heute als "Che Guevara" ein weltweites Symbol. Sein dem Foto von dem kubanischen Fotografen Alberto Korda nachempfundenes ikonographisches Portrait schmückt unzählige T-Shirts und Poster – ein Bild, in dem sich Rebellion und Jugendlichkeit, Militanz und Sehnsucht spiegeln. Auch in Kuba ist sein Bild allgegenwärtig: Auf großen Industrietanks und auf Erinnerungstellern, auf Hauswänden und auf Autotüren, auf Riesenplakaten entlang der Landstraßen. Während Bilder von Fidel Castro in der Öffentlichkeit eher selten sind, umgibt Che Guevara längst ein Glorienschein.
Jerome gibt noch einmal Gas und dann ist die abenteuerliche Fahrt endlich beendet, er steckt seine 30 CUCs ein und macht sofort kehrt. Ein weiter Platz erstreckt sich hier im Westen der Stadt auf einer kleinen Anhöhe. Dominiert wird das Denkmal durch eine große Bronzestatue von Che, mit Gewehr und eingegipsten Arm (er hatte sich ihn in der Schlacht gebrochen). Daneben zeigt ein Flachrelief Kampfszenen und Zitate. Das Denkmal auf dem Platz der Revolution wurde 1988 anlässlich des 30. Jahrestages der Erstürmung der Stadt eingeweiht. Heute ist es eher ruhig hier, nur eine Gruppe Lateinamerikaner klettert die Stufen hinauf und hinunter, eifrig werden Fotos geschossen.
Projektionsfläche für Sehnsüchte
Warum Che Guevara zum Jugend-Idol und Quasi-Heiligen wurde, kann man im Museum unter dem Denkmal erfahren. Kinderzeichnungen, ärztliche Geräte, eine Fotokamera, Gewehre und eine Pistole erzählen die Geschichte eines Mannes, den Sartre als den "vollkommenen Menschen" bezeichnet hatte. Bei dem sich Theorie und Praxis, humanistisches Engagement und bewaffneter Kampf paarten. Der mit großer Selbstdisziplin sein Asthma ertrug und Gewaltmärsche absolvierte. Der sich nie selbst bereicherte und keinen Vorteil aus seinen Ämtern in der kubanischen revolutionären Regierung zog. Der sich nicht von den Menschen entfernte und seinen sozialistischen, revolutionären Idealen treu blieb – zuerst als Guerillero im Kongo und später in Bolivien. Dort scheiterte er mit seinem Revolutionsversuch und wurde 1967 auf Befehl der CIA erschossen und verscharrt.
Ich gehe zu Fuß zum Busbahnhof von Santa Clara. "Nein, heute gibt es keine Verbindung mehr zurück nach Cienfuegos", lautet die Auskunft. Nicht überraschend: Auch kein Zug fährt mehr dorthin. Etwas verloren stehe ich in der Gegend herum. Bis sich ein schlaksiger Schwarzer von einem parkenden Privatauto löst und näher kommt. "Cienfuegos?", fragt er. "Treinta!"
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