Kleine Schritte

Sicherheitskonferenz Bei den Kritikern der NATO ist die Forderung nach Auflösung des Paktes populär. Praktisch wäre damit aber wenig gewonnen, meint der linke Europaabgeordnete André Brie

Das Zauberwort heißt Barack Obama. Glaubt man den zahllosen Medienberichten, hängt die Zukunft der NATO allein am neuen Präsidenten der USA. Tatsächlich hatte der erst kürzlich auf der Internetseite des Weißen Hauses erklärt, das Militärbündnis müsse "reformiert und gestärkt" werden. Stichworte, wo dies zum Tragen kommen sollte, lieferte der neue Herr im Oval Office gleich mit: Afghanistan, "Homeland Security" und Terrorabwehr. Das lässt für die geplante Neufassung der NATO-Strategie 2009 oder 2010 nichts Positives erwarten.

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Damit steht Obama allerdings ganz in der Tradition seines Vorgängers George W. Bush. Auf dessen Drängen hatten die NATO-Staaten nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zum bisher einzigen Mal in der Geschichte des Bündnisses den Verteidigungsfall erklärt. Diese mehr als fragwürdige Aktion erwies sich allerdings rasch als eher symbolisch: Die USA nutzten die NATO für eine aggressive, vor allem gegen Russland gerichtete Erweiterungspolitik, für die politische und propagandistische Absicherung einer offensiven Nuklearstrategie und ihres weltweiten Hegemonialanspruchs und globalen Interventionismus unter dem verlogenen Etikett des "Krieges gegen den Terrorismus" sowie die Einbindung der Bündnispartner und anderer Staaten in diese Politik.

Koalition der Willigen statt Bündnis-Orientierung

Die reale Bedeutung der NATO für die USA, aber auch für andere Mitgliedsländer, ihre – wie auch immer zu bewertende – Effektivität und ihr Zusammenhalt gingen jedoch zurück. Die USA setzten auch in ihrer NATO-Politik auf Unilateralismus, bilaterale Beziehungen oder "Koalitionen der Willigen". Selbst für ihr offensives Raketenstationierungsprojekt in Polen und der Tschechischen Republik ignorierten sie das Bündnis. Diese Politik wurde von den Regierungen der anderen Pakt-Staaten jedoch toleriert und vielfach, wenngleich unterschiedlich, wie in den Kriegen gegen Jugoslawien 1999 und den Irak, unterstützt.

Zur 45. Münchner Sicherheitskonferenz werden vom 6. bis 8. Februar mehr als 300 Spitzenpolitiker, Militärs und Wirtschaftsvertreter aus gut 50 Ländern erwartet, darunter Afghanistans Präsident Hamid Karsai, Russlands Vize-Regierungschef Sergej Iwanow und der iranische Parlamentssprecher Ali Laridschani. Der Vizepräsident der USA, Joe Biden, will den neue außen- und sicherheitspolitischen Kurs von Barack Obama erläutern. Themen dürften unter anderem der Streit um das US-Raketenabwehrsystem in Tschechien und Polen, das Verhältnis zwischen NATO und Russland, der Krieg in Afghanistan und der Atomstreit mit dem Iran sein. Die Konferenz wurde 1962 als "Wehrkundetagung" etabliert und hat sich zu einem der wichtigsten Foren der politischen Eliten entwickelt.

Gerade in dem für Obama zentralen "Fall Afghanistan" zeigt sich die Fragwürdigkeit und Krise der NATO. Obwohl der Konflikt ganz offensichtlich nicht militärisch zu lösen ist, soll die NATO dennoch ihr "Engagement" verstärken. Afghanistan wurde sogar zum "Prüfstein" für die Strategie des Bündnisses erklärt, obgleich gerade der dortige Krieg zu ihrem schwächsten Glied geworden ist. Letztlich ist Afghanistan damit zum Ausdruck für das Scheitern der NATO, ihrer nach 1991 erneuerten Strategie sowie ihrer Unfähigkeit geworden, heutige Sicherheitsprobleme konstruktiv, nachhaltig und nichtmilitärisch zu lösen.

Die erweiterte NATO steht faktisch vor dem Bruch

Die Bruchstellen in der NATO und ihren verschiedenen Politiken sind nach 2001 groß geworden. Einigen Regierungen scheint sogar klar zu sein, dass die von den USA betriebene Aufnahme der Ukraine und Georgiens zum faktischen, wenngleich nicht formalen Zerbrechen des Paktes führen können. Es war durchaus im Sinne der USA, die mittel- und osteuropäischen Staaten in ihre Politik einzubeziehen und sie in der neu aufkeimenden politischen, weltwirtschaftlichen und finanzpolitischen Rivalität zwischen den USA und der EU für die eigene Dominanzpolitik zu mobilisieren und zugleich die eigene Bindung an die NATO zu lockern. Darüber hinaus hat die von den USA, Großbritannien sowie mittel- und osteuropäischen Staaten verfolgte antirussische und antichinesische Konfrontations- und Einkreisungspolitik zusätzliche Differenzen hervorgebracht.

Die Versuche der NATO-Staaten, mit einer offensiven und global interventionistischen Strategie sowie der Entwicklung der entsprechenden militärischen Fähigkeiten einen Ausweg aus ihrer Krise zu finden, machen die Allianz auf eine neue Weise zu einem Hindernis für eine kooperative Sicherheitsgestaltung im Rahmen der UN und OSZE, für weltweite Abrüstung und Nichtweiterverbreitung von Kernwaffen (nicht einmal die Politik der nuklearen Teilhabe, die beispielsweise der Bundesrepublik eine vertragswidrige Mitverfügung über US-Nuklearwaffen ermöglicht, wird aufgegeben), zu einer Bedrohung internationaler Stabilität und Sicherheit.

Drei Zukunftsoptionen

Vor diesem Hintergrund gibt es drei Zukunftsoptionen für die NATO. Die erste ist, die Politik als globale Interventionsmacht fortzusetzen und dabei die eigenen Vertragsgrundlagen zu missachten. Das ist jenes Konzept, dessen Durchsetzung in der neuen NATO-Strategie sich gegenwärtig abzeichnet. Die beiden Alternativen zu diesem Szenario dürften angesichts gegenwärtiger Kräfteverhältnisse, der Positionen der Regierungen, darunter praktisch auch der russischen, und angesichts der Schwäche politischer Massenbewegungen nur sehr schwer durchsetzbar sein. So wäre als zweite Variante über eine Transformation der NATO zu einem gesamteuropäischen, richtiger: transatlantischen und transeuroasiatischen, kooperativen Sicherheitssystem zu diskutieren, die mit der Entwicklung alternativer Sicherheit im UN-Rahmen zu verknüpfen wäre.

Die ehrlichste Variante wäre, die schon in den neunziger Jahren erhobene Forderung nach einer Auflösung der NATO aufzugreifen. Dafür ließe sich auch eher als für eine Transformation die Öffentlichkeit mobilisieren. Der Widerstand der Regierungen und des politischen Mainstreams wird jedoch nicht minder stark sein. Das politische Problem dabei: Mit der Auflösung der NATO wäre konstruktiv und alternativ nichts gewonnen. Die USA könnten ihre Politik allein und bilateral fortsetzen. Die Politik des Unilateralismus würde vollendet, ohne die Militarisierung der internationalen Beziehungen zu beenden und die Ächtung von Krieg und Rüstung durchzusetzen.

So schwierig jede Variante scheint: Tatsächliche Alternativen zur NATO in Europa und weltweit sind dringend erforderlich. Die Debatte darüber muss gewagt und geführt werden – mit Mut und Fähigkeit gleichermaßen zum sehr weitreichenden Ziel und zum mühevollen Weg mit seinen vielen kleinen Schritten. Der Ausweg, die seit 1990 offenkundige Legitimationskrise der NATO durch globalen Interventionismus zu überwinden, muss dem Bündnis auf jeden Fall verwehrt werden. Die Bilanz der Irak-, Jugoslawien- und Afghanistankriege ist alarmierend genug.

André Brie, Jahrgang 1950, hat sich seit Beginn der siebziger Jahre mit außenpolitischen Fragen beschäftigt. Der Politikwissenschaftler lehrte am Institut für Internationale Beziehungen in Potsdam und beriet unter anderem die DDR-Delegation bei der Genfer Abrüstungskonferenz. In den neunziger Jahren gehörte er der Spitze der damaligen PDS an. Seit Juli 1999 ist Brie für die Linkspartei Mitglied des Europaparlaments. Eine erneute Kandidatur bei den diesjährigen Wahlen ist ungewiss, nachdem ihn der Bundesausschuss der Linkspartei nicht für einen aussichtsreichen Listenplatz vorgeschlagen hat.

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