Wenn ein Körper in eine gesundheitliche Krise gerät, ist dies medizinisch nicht durchweg negativ zu sehen. Oft reagiert der Körper hiermit nur auf längeres Fehlverhalten und signalisiert damit, dass eine Grenze erreicht und eine Verhaltensänderung zum eigenen Wohlergehen dringend geboten wäre. Ganz so ist es mit der augenblicklichen Krise, die eine umfassende und mehrschichtige Krise unserer gesamten Lebens- und Wirtschaftsweise ist. Die Industriegesellschaften der Nordhalbkugel haben sowohl ökonomisch als auch ökologisch solch eine Grenze erreicht, in vielen Bereichen sogar schon weit überschritten.
Sowohl bezüglich der Überschuldung und Vermögensverteilung als auch bezüglich der immer schneller voranschreitenden Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen sollten wir die Signale also sehr ernst nehmen. Eine grundsätzliche Verhaltensänderung ist geboten, wenn wir nicht wollen, dass wir als Gesellschaften von einem krisenhaften in eine siechenden Zustand hinabgleiten. Die Krise als Signal zu deuten, heißt dann vor allem, an den Ursachen und nicht an den Symptomen anzusetzen. Ökologisch gesehen geht es dabei um nicht weniger, als um die Fähigkeit des Planeten, die Folgen unserer wirtschaftlichen Aktivitäten in naturkonforme Prozesse aufnehmen zu können. Dieses Problem der sogenannten „ökologischen Senken“ ist wiederum ein vielschichtiges, es zeigt sich an durchweg negativer werdenden globalen Rahmendaten, insbesondere beim Klimawandel, dem historisch einmaligen Verlust der Artenvielfalt, dem Verschwinden von Wald- und Fischbeständen, der stetig zunehmenden Ressourcenknappheit.
Etwa seit Mitte des 20. Jahrhunderts sind so geschätzte 60 Prozent der weltweiten Ökosysteme geschädigt oder übernutzt worden. Der globale ökologische Fußabdruck führt uns dabei sehr eindringlich vor Augen, dass die systematische Übernutzung der natürlichen Ressourcen und der Ökosysteme auf die Produktions- und Konsumweise unserer Industriegesellschaften zurückzuführen ist. Die Krisensignale, die uns die Natur sendet sind sehr eindeutig, sie spiegeln uns unsere Gesellschaften als Plunder- und Plündergesellschaften wider. Diese Signale sagen uns, diese Krise ist noch nicht die Katastrophe, sie mahnen aber eben auch zu einer sehr grundlegenden Verhaltensänderung.
Im Marktprozess ist durch die betriebswirtschaftliche Logik mit der Ressourceneffizienz ein Teil der Lösung sogar selbst angelegt. In der Tat zeigen uns die Statistiken der OECD, dass seit 1975 in Bezug auf die Materialintensität pro Einheit der Wirtschaftsleistung eine relative Entkopplung in den hochentwickelten Industrieländern festzustellen ist. Die Statistiken zeigen uns aber leider auch, dass in globalen Zahlen eine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcen- und Naturverbrauch nicht gelingt. Alles, was wir auf der Effizienzseite gewinnen, verlieren wir wieder – durch Rebound-, Rollback- und Systemverschiebungseffekte – an das Wachstum. Natürlich ist es verlockend, in der Ressourceneffizienz eine wachstums- also systemkonforme Hauptlösung zu sehen, de facto kann sie jedoch nur eines von mehreren Instrumenten sein, um das Ziel einer wirklich nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise zu erreichen. In der Tat geht es dann um eine tiefergehende Verhaltensänderung, in der Art wie wir produzieren und konsumieren, im Ganzen wie wir „Wohlstand“ überhaupt definieren.
Dabei wissen wir aus der Konsumforschung, dass mit dem Konsum von Massengütern immaterielle Bedürfnisse und soziale Teilhabe nur ersatzbefriedigt werden. Zufriedenheit und materieller Wohlstand jenseits eines bestimmten Niveaus stimmen nicht mehr miteinander überein. Ein großer Teil des Konsums, heißt das, hat also eher kompensatorischen Charakter. Neben der radikalen Ressourceneffizienz wäre dies also die zweite notwendige Verhaltensänderung. Der allmähliche Ersatz von Warenbeziehungen durch soziale Beziehungen, durch Bildung, öffentliche Güter, Gesundheit und Pflege, ökologische Dienstleistungen und Produkte, durch Kultur und Wissenschaft. Ein solcher nicht nur ökologisch, sondern auch sozial verstandener Wandel würde also nicht als ein „Weniger“ (an materiellen Ersatzbefriedigungen), sondern als ein „Mehr“ (an Lebensqualität, Würde im Alter, gesundem Leben, kultureller Teilhabe etc.) wahrgenommen werden. Das Wort „Suffizienz“ (von „genügend“ und „ausreichend“) würde so seine für viele noch abschreckende Wirkung verlieren.
Gleichzeitig müssen wir auf der Produktionsseite zu geschlossenen Stoffkreisläufen kommen und zudem unsere industriellen Stoff- und Energieumwandlungsprozesse den natürlichen angleichen. Das heißt zunächst, uns von dem Gedanken zu verabschieden, dass es überhaupt so etwas wie Abfall gibt. Werk- und Rohstoffe, die nicht mehr natürlich abbaubar oder vollständig recycelbar sind, sollten darum per Ordnungsrecht aus unseren Wirtschaftskreisläufen genommen werden. Bei der Energie- und Stoffumwandlung sollten wir hingegen in der Natur selbst das große Vorbild sehen („Biomimikry“), sowohl beim niedrigeren Temperaturniveau, als auch bei viel kürzeren Zyklen und vor allem bei biochemischen Prozessen. Jenseits einer fossilen und dadurch energieintensiven Produktionsweise gibt es für unsere Wissenschaft und Wirtschaft ein ganz neu zu entdeckendes Universum enzymatisch, fotosynthetischer, biochemischer und bakteriologischer Stoff- und Energieumwandlungsprozesse.
Unsere Textil- und Chemieindustrie etwa sollte sich von der Abhängigkeit von der Ölindustrie befreien und kann stattdessen von Spinnen lernen.
In der Tat geht es um eine Art Postwachstumsökonomie, deren Grundgedanke sich von der linearen Anhäufung von Vermögen, Schulden und Gütern verabschiedet und sich stattdessen lebensverträglichen Zyklen und Stoffumwandlungen annähert. So ist die gegenwärtige multiple Krise für uns auch eine Chance. Am Ende könnten unsere Gesellschaften dann vielleicht das gleiche von sich behaupten, was viele, die eine schwere gesundheitliche Krise überstanden und ihr Verhalten entsprechend geändert haben, immer wieder sagen: Wir leben jetzt besser, ja, wir haben das Leben wieder ganz neu für uns entdeckt.
, Jahrgang 1968, ist umwelt- und verbraucherpolitischer Sprecher der grünen Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag.Hans Christian Markert
Kommentare 16
„Der allmähliche Ersatz von Warenbeziehungen durch soziale Beziehungen, durch Bildung, öffentliche Güter, Gesundheit und Pflege, ökologische Dienstleistungen und Produkte, durch Kultur und Wissenschaft.“
Leider wird dieser Gedanke nicht weiter ausgeführt; insofern verbleibt auch dieser Artikel im üblichen Beschreiben der Misere.
Und – diese Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen – die „neuen Grünen“ (im Gegensatz etwa zu Ströbele) im Prenzlberg leben vor, wie Warenbeziehungen (Bio als auch technische Konsumgüter) wunderbar vernetzt werden mit sozialen Beziehungen; sofern man unter sich bleibt (!).
Diese Krise ...
"Tausende Amerikaner besetzen gewaltfrei die Wall Street -- das Zentrum globaler Finanzmacht und Korruption. Die Besetzer sind der neueste Lichtblick einer Bewegung für soziale Gerechtigkeit, die sich wie ein Lauffeuer von Madrid nach Jerusalem und in mehr als 146 weitere Städte ausbreitet. Aber sie brauchen unsere Hilfe, um zu gewinnen.
Einfache Familien bezahlen die Rechnung für eine Finanzkrise, die von korrupten Eliten verursacht wurde. Die Demonstranten fordern nun echte Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Transparenz. Aber die Behörden üben Druck auf sie aus, und gewisse Medien tun sie als Randgruppen ab. Wenn Millionen von uns sie weltweit unterstützen, können wir ihre Entschlossenheit kräftigen und den Medien und Politikern zeigen, dass die Proteste Teil einer riesigen Bewegung sind, die eine breite Basis in der Gesellschaft genießt."
www.avaaz.org/de/the_world_vs_wall_st/?cl=1309630612=10602
"Hans Christian Markert, Jahrgang 1968, ist umwelt- und verbraucherpolitischer Sprecher der grünen Fraktion im nordrhein-westfälischen Landtag."
Alles klar.
Kernelement der Grünen "Philosophie" ist die Ersetzbarkeit (kommt vom Gedanken der unbegrenzten Austauschbarkeit von funktionell Gleichwertigem). Wenn soundso viele Enten die gleiche Funktion erfüllen wie ein Schwan, dann könne man bedenkenlos diesen durch jene ersetzen.
Daraus resultiert die Bejahung von Kriegen, die Zustimmung zu Hartz IV, letztendlich eine stetige Systemoptimierung, ganz im Sinne des Kapitalismus. Kein Wunder, dass systemtheoretisch Geschulte die Grünen schon länger als kapitalistische ParteiWunderwaffe erkannt haben.
"Die Grünen - eine Protestpartei? Nicht für Jutta Ditfurth. Die Ex-Bundesvorsitzende greift ihre früheren Weggefährten im SPIEGEL-ONLINE-Interview scharf an: Sie seien zu neokonservativen Weichspül-Ökos und Meistern in der Kunst des Verrats verkommen."
www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,745943,00.html
Im Rahmen des Glaubens an den "green deal" ein gelungener Beitrag.
Nur reicht das heute noch angesichts der vom Autor selbst erkannten kapitalgetriebenen Spirale in Richtung "Hotel Abgrund", der systematischen Überlastung und rücksichtslosen Ausbeutung des Planeten. Solch eine "grüne Realpolitik" ist doch ein Schwimmen im Falschen, der Einäugige unter den Blinden...
Das sog. bessere Leben kommt um radikalen Reccourcenreduktion und eine Umwertung von Wertorientierungen nicht herum. Lieber angenehm im Bett liegen und nichts machen als ständig zu produzieren, sei es auch noch so "effizient".
Zur Krise einige philosophische Notizen:
www.freitag.de/community/blogs/bildungswirt/oekologisch-philosophische-daemmerungen
Gruß BW
Kleine Manöverkritik:
1)---Zitat:
..."Im Marktprozess ist durch die betriebswirtschaftliche Logik mit der Ressourceneffizienz ein Teil der Lösung sogar selbst angelegt."...
Ist es das?
In der BWL-Logik ist eine Ressource ebenso wie der Abfall erstmal eine Externalität. Das muss also erst in monetäre termini umübersetzt werden, sonst erkennt der BWL-ler, oder 'der Marktprozess' erstmal garnichts!
Der erkennt erstmal nur
a) FESTGESETZTE Kosten
oder
b) Forderungen zB eines warlords im Kongo.
Und dagegen wehrt er sich, oder überlässt es Lobbyisten, solche 'Kosten' zu minimieren oder erst garnicht entstehen zu lassen.
(Vgl zB Lawrence Summers, zulang auch Obamas 'economic adviser':
...Zu Kritik führten von Summers in einem internen Papier der Weltbank getroffene Aussagen, es sei ökonomisch logisch, Verschmutzung etwa in Form von Giftmüll in Entwicklungsländer zu exportieren, da dort die entgangenen Einnahmen durch erhöhte Krankheit und Sterblichkeit am niedrigsten seien. So gesehen seien Entwicklungsländer "unterverschmutzt" ... de.wikipedia.org/wiki/Lawrence_Summers )
2)---
..."In der Tat geht es um eine Art Postwachstumsökonomie, deren Grundgedanke sich von der linearen Anhäufung von Vermögen, Schulden und Gütern verabschiedet und sich stattdessen lebensverträglichen Zyklen und Stoffumwandlungen annähert."...
Linear?
Sagen wir doch, wie es ist: EXPONENTIELL!
Der Autor scheint etliches nicht recht verstanden zu haben, oder seine Thesen mit einer Überdosis 'Realo'-Weichspüler versetzt zu haben, und sich das schicke Mäntelchen des Besorgten umgehängt zu haben.
Die harsche REALITÄT sieht etwas anders aus.
Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!
Der ist den Grünen im Schleim der 'Real'-Politik offenbar steckengeblieben.
http://www.hc-markert.de/uploads/pics/hcfoto_small.png
Hans Christian Markert wirkt nett, freundlich und schwiegermutterkompatibel. Folge ich allerdings Jutta Ditfurths Analyse des Typus des Grünen Politikers (s. Spiegel-Interview), verkörpert er die Antonyme.
Was mich interessieren würde:
1)
Diskutiert man unter 'Grünen' etwas wie die 'Degrowth'-Bewegung?
Wieviel grüne Deligierte waren da?
Alles schön nachzulesen bei en.wikipedia.org/wiki/Degrowth
+Links.
(mW: NUll. NIL. NADA.)
2)
Weiters gibt es seit mehr als 10 Jahren das Post-Autistic-Economics-movement.
en.wikipedia.org/wiki/Post-autistic_economics
(Nennt sich heute etwas anders. Egal)
Frage: wieviel Grüne sind da dabei?
Verdacht: NULL! nichtmal Sven Giegold.
(Also. mW: NUll. NIL. NADA.)
3) Wer macht eigentlich mal unter 'Grünen' das Maul auf bei tjn?
Tax-Justice-Network, die ungefähr so relevant sind wie attac?
taxjustice.blogspot.com/
Also nicht herumschwafeln, wenn man schon an den Hebeln der Macht sitzt, wie die anderen Nebelkerzenwerfer, die das ungestraft tun dürfen, ohne als Terroristen verunglimpft zu werden.
Was BEWEGEN!
'Repräsentative Demokratie' ist/sollte doch heutzutage etwas wie repräsentativer DISSENS sein, und nicht Konsens!
Verstanden?
Dann bedanke ich mich auch vielmals!
Der umwelt- und verbraucherpolitischer Sprecher der NRW-Landtagsgrünen schreibt:
Alles, was wir auf der Effizienzseite gewinnen, verlieren wir wieder – durch Rebound-, Rollback- und Systemverschiebungseffekte – an das Wachstum.
Die "Rebound-, Rollback- und Systemverschiebungseffekte" würde gerne mal mit meinem Frisör diskutieren.
auf deutsch:
wir drehen uns im Kreis.
worums gehen würde:
-- fallen wir nicht immerzu? (Nietzsche)
-- the incredible shrinking man.
sind wir in einem B-movie ala Jack Arnold?
de.wikipedia.org/wiki/Die_unglaubliche_Geschichte_des_Mister_C.
1959.
aber das ist für einen Grünen-Funktionär wohl etwas zu weit hergeholt.
Im Grunde wirft der Artikel die Frage zwischen stofflichem und wertmäßigem Reichtum auf. Die Frage wird in den folgenden beiden Artikel sehr anschaulich behandelt und deren widersprüchliche Grundlagen fundiert analysiert und die Unlösbarkeit innerhalb der Marktwirtschaft wissenschaftlich und mathematisch belegt.
Artikel 1 (behandelt quasi Realwirtschaft und Ökologie):
www.hh-violette.de/category/natur-und-umwelt/
Artikel 2 (wertkritische Aufarbeitung der Wertschöpfungslogik):
www.exit-online.org/textanz1.php?tabelle=autoren=3=382=text1.php
Wer es tatsächlich geschafft hat, das geistig zu nachvollziehen zu können, dürfte an Gegenargumenten ziemlich zu knabbern haben.
Die Lösung aus dem Dilemma ist aber eigentlich ganz einfach. Man muss die Seite des Widerspruches abschaffen, die nicht von der Natur abgeleitet, sondern gesellschaftlich-historisch konstituiert wurde: den abstrakten, wertmäßigen Reichtum.
"Natürlich ist es verlockend, in der Ressourceneffizienz eine wachstums- also systemkonforme Hauptlösung zu sehen, de facto kann sie jedoch nur eines von mehreren Instrumenten sein, um das Ziel einer wirklich nachhaltige Lebens- und Wirtschaftsweise zu erreichen."
Wieso natürlich? Ist die "wachstums- also systemkonforme Hauptlösung" eine scharfe Braut mit dicken Möpsen? (sorry ladies!)
@Hans Christian Markert
Ich glaube, ich kriege die Krise.
Ein überaus interessant und gut geschriebener Artikel.
Danke.
Nur geht dieser Artikel, nach Art der
„Vogel Strauß Politik“,
scharf bis verleugnend an den vagabundierenden Ausbeutern, Krisengewinlern der extra "erfunden" Weltfinanzkrise vorbei.
Siehe dazu
www.freitag.de/community/blogs/joachim-petrick/aktionstag-15-oktober-2011reguliert-die-weltfinanzwirtschaft
Aktionstag 15.Oktober 2011“Reguliert die Weltfinanzmärkte!“
@Hans Christian Markert
Ich glaube, ich kriege die Krise.
Ein überaus interessant und gut geschriebener Artikel.
Danke.
Nur geht dieser Artikel, nach Art der
„Vogel Strauß Politik“,
scharf bis verleugnend an den vagabundierenden Ausbeutern, Krisengewinlern der extra "erfunden" Weltfinanzkrise vorbei.
Siehe dazu
www.freitag.de/community/blogs/joachim-petrick/aktionstag-15-oktober-2011reguliert-die-weltfinanzwirtschaft
Aktionstag 15.Oktober 2011“Reguliert die Weltfinanzmärkte!“
@Mister Nobody:
Zitat: "Diskutiert man unter 'Grünen' etwas wie die 'Degrowth'-Bewegung?"
Ja, man tut. Der obige Artikel von Hans Christian Markert ist aus meiner Sicht ein guter Ansatz, der das Wesentliche auf den Punkt bringt und damit hilfreicher Anstoß und Teil dieser Diskussion, die bei den Grünen gerade ( wieder) beginnt und die ich sehr begrüße!