Liste und Lücken

Europa Kampfkandidaturen, EU-Streit, gefühlte Sieger: In Essen hat die Linkspartei ihre Kandidaten für die Europawahlen im Juni aufgestellt und ein Programm beschlossen

Eigentlich sind Europaparteitage nicht unbedingt das, was man einen journalistischen Aufreger nennen kann. Bei der Linkspartei ist das anders. Das zweitägige Delegiertentreffen in Essen, bei dem das Programm zur Wahl im Juni beschlossen und die Kandidatenliste für das Straßburger Parlament gewählt wurde, erschien schon im Spiegel der medialen Vorberichterstattung wie ein Parteitag ums Ganze: EU-Freunde gegen Europagegner, Ossis gegen Wessis, Realos gegen Fundis – und wer hat nun gewonnen?

Linksruck, kein Linksruck

Schon auf dem Listenplatz vier hatte es mächtiges Gedränge gegeben, die erste Überraschung folgte auf Platz 10, wo der vorgeschlagene Ex-Grüne Wilfried Telkämper dem vom linken Parteiflügel unterstützten Tobias Pflüger unterlag. Die bei der Nominierung nicht berücksichtigten Europaparlamentarier Sylvia-Yvonne Kaufmann und André Brie versuchten es in Kampfabstimmungen, verfehlten den Sprung auf die Liste aber dennoch. Beide gelten als alte europapolitische Hasen – sind aber in der Linken umstritten.

Während man bei der Kommunistischen Plattform auf dem Parteitag eine „deutliche Akzentverschiebung nach links“ beobachtet haben will, konnte der zum pragmatischen Flügel zählende Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch „keinen Linksruck“ entdecken – „im Gegenteil“. Die Stellung im politischen Koordinatensystem ist dabei das eine, innerparteiliche Flügelkonflikte sind das andere. Bartschs Äußerung ist womöglich Pfeifen im Walde, er wird sich eher sorgen, dass die kommende Europafraktion und das EU-Programm der Linken einen ungünstigen Einfluss auf mögliche Regierungsbeteiligungen haben könnten. Die Strömungen, die vor allem am Starkwerden der Partei in der Opposition interessiert sind, werden dagegen genau dies hoffen. Schließlich gilt die „außenpolitische Berechenbarkeit“ als eine der letzten Barrieren vor einem Mitte-Links-Bündnis auf Bundesebene.

Über diese machtpolitische Option redet die übergroße Mehrheit in der Partei nicht so gern. Auch nicht darüber, ob es unter Umständen opportun sein könnte, gegebenenfalls von einer Forderung Abstand zu nehmen, um eine andere durchzusetzen. Es geht um Realisierungschancen und Strategien: Wenn europapolitische Radikalität verhindert, in einer nationalen Regierung seinen Einfluss geltend zu machen, und damit die Möglichkeit beschränkt wird, gestaltend auf den Zustand der EU einzuwirken, was ist dann gewonnen? Oder ist es doch eher so, dass der Hebel erst lang genug ist, wenn man deutlich mehr als 10 Prozent der Stimmen bei Wahlen erzielen kann – und der bis dahin nötige Zustimmungsgewinn am ehesten dadurch erreicht wird, dass man sich nicht auf Kompromisse einlässt?

Eher Bündnis als Partei

Die Linke, die sich in Essen eher als ein Bündnis denn als eine Partei präsentierte, führt solche Debatte gern auch über Personen. In Namen und Flügel-Zugehörigkeiten verdichten sich die Differenzen schnell zum Pro und Anti. Register wie „proeuropäisch“ und „antieuropäisch“, der sich auch die Presse bei der Beschreibung der Lager gern bediente, erweisen sich natürlich als untauglich. An der „medialen Verwirrung“, von der Parteichef Lothar Bisky sprach, ist die Linke aber nicht ganz unbeteiligt. Nicht jeder Kommentar, der auf der einen Seite „proeuropäische“ und auf der anderen „antieuropäische“ Kräfte erkennt, ist gleich das Resultat einer „polemischen Kampagne der politische Gegner” (Oskar Lafontaine) oder einer „Entzwei-Aktion der Konzernmedien“, wie es der europapolitische Sprecher der Linksfraktion, Diether Dehm formuliert hat. Die Strömungen in der Partei haben ihre Stellungskämpfe ja selbst in diesem Raster geführt: Vorwürfe, die Traditionslinke würde an „antieuropäische Ressentiments” anknüpfen, gefolgt von Repliken, die Pragmatiker würden mit ihren „abstrakten Bekenntnissen zur europäischen Integration” bloße „Folklore des Neoliberalismus” aufführen. Am Ende passte der Vielklang dann doch noch in einen beinahe einstimmig befürworteten Kompromiss: Ja zur europäischen Integration, Nein zum Lissabon-Vertrag.

Dass unter diesen Umständen jemand wie Sylvia-Yvonne Kaufmann, immerhin die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, den Sprung auf die Liste nicht schaffte, ist sogar verständlich. Bisky hatte davor gewarnt, man könne schlecht mit einer Kandidatin in den Wahlkampf ziehen, die den Lissabon-Vertrag als Fortschritt verteidigt, und als Partei eben diesen Vertrag ablehnen: „Dann würde man uns für verrückt erklären.“ Nach ihrem Europaparteitag hat die Partei dieses Problem zwar nicht mehr - damit aber keineswegs geringere Sorgen.

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