Tagespolitisches Klein-Klein ist Oliver Schmolkes Sache ganz offensichtlich nicht. Es geht ausdrücklich um das Große und das Ganze, wenn Schmolke unter dem Titel „The times they are a-changin’“ zur Feder greift: „Die Frage nach der politischen Alternative steht im Raum. Es ist höchste Zeit, das große Gespräch über die Zukunft der demokratischen Idee zu beginnen.“
Einverstanden! Machen wir uns also, wie Schmolke es vorschlägt, auf die Suche nach der gesellschaftlichen und politischen Mitte. Gerne auch auf die Suche nach dem „sozialliberalen Diskurs“, der nach Schmolkes Ansicht genau diese Mitte markieren könnte. Nur eines sollten wir nicht tun. Wir sollten, wenn wir schon „groß“ einsteigen, diesen Diskurs nicht zugleich ans Verhältnis zwischen zwei bestimmten Parteien binden. Genau das aber hat Schmolke leider getan. So weit er auch ausholt: Am Ende (und bei ihm am Anfang) geht es offensichtlich vor allem um „sozialliberal“ im engen, parteipolitischen Sinne. Um die Enttabuisierung des Verhältnisses zwischen SPD und FDP.
Es war Sigmar Gabriel, der beim Dresdner Parteitag die Aufgabe der Sozialdemokratie wesentlich treffender beschrieb: „Wer die Deutungshoheit über die aktuellen Herausforderungen besitzt, der steht in der Mitte der Gesellschaft.“ Das war nichts weniger als der Appell, die SPD – und zwar die SPD allein und nicht mit wem auch immer – wieder zum entscheidenden Ort der Debatte über gesellschaftliche Modernisierung zu machen. Und auch ein halbes Jahr später gilt: Müsste sie nicht wenigstens den Anspruch haben, dies zu sein, ohne sich den Steigbügel von der FDP oder sonst wem halten zu lassen?
Wohlgemerkt: Das ist keineswegs so gemeint, als sollte die SPD das Gespräch mit irgendwem verweigern. Das soll sie nicht, auch nicht mit der FDP. Aber auf Seite zwei die Gemeinsamkeiten vor allem bei Bürgerrechten und Außenpolitik zu finden (wo sie tatsächlich groß sind) und nicht in der Arbeits- und Sozialpolitik, aber auf Seite vier mit derselben FDP die Arbeitsgesellschaft modernisieren zu wollen, das erscheint dann doch gewagt. Gerade in der SPD, die vor der existenziellen Aufgabe steht, sich mit Ideen für einen sozialverträglichen Kapitalismus nach der Krise auch aus der eigenen Krise zu befreien, sollte Gabriels Satz ganz uneingeschränkt gelten. Sie sollte nach eigenen, überzeugenden Konzepten suchen, statt auf Konstellationen zu schielen. Und dann, wenn sie so überzeugend war, dass es ans Regieren geht, sollte sie sich Partner suchen.
Provokantes Gedankenspiel, mehr nicht
Es hätte des kläglichen Verhaltens der FDP in Nordrhein-Westfalen nicht bedurft (auch wenn es eine Bestätigung liefert), um zu konstatieren: Ausgerechnet diese Partei nun, wenn schon überhaupt eine, zum Bezugspunkt des „sozialliberalen Diskurses“ zu machen, erschließt sich allenfalls als provokantes Gedankenspiel. Als ernsthafter Beitrag zur Suche nach einer „sozialliberalen“ Zukunft erschließt es sich nicht.
Vielleicht sollte man sich entscheiden, über welchen Zeithorizont man redet. Es mag ja sein, dass „Pyrrhus Westerwelle“ (oder sein Nachfolger?) irgendwann in den kommenden Jahren die Konsequenzen zieht und die FDP aus der marktfundamentalistischen Ecke wieder herausführt. Dann mag es auch sein, dass diese Partei wieder zu einem passenden Partner für die ihrerseits „sozialliberal“ modernisierte SPD werden könnte. Aber in der Gegenwart haben wir es mit dieser und keiner anderen FDP zu tun. Als Journalist derselben Zeitung, in der einst der große FDP-Modernisierer Karl-Hermann Flach seinen Arbeitsplatz hatte, kann man nur sagen: Für eine sozialliberale Politik in guter Tradition stehen heute ganz andere Partner zur Verfügung.
Wenn wir also schon, entgegen Gabriels Appell zur selbstbewussten Selbstdefinition der Sozialdemokratie, in Konstellationen denken, dann muss sich Oliver Schmolke zum Beispiel fragen lassen: Was haben die Grünen in ihrer derzeitigen Verfassung nicht, was die FDP zum „sozialliberalen Diskurs“ beitragen könnte (immer vorausgesetzt, wir definieren „sozialliberal“ inhaltlich und nicht parteipolitisch)? Oder auch dies: Warum sollte die „Resozialisierung der FDP“, die Schmolke mit Recht zur Voraussetzung der Bündnisfähigkeit macht, schneller gehen als die Sozialdemokratisierung der Linkspartei, die diese zur potenziellen Partnerin auch im Bund machen würde?
Etatismus und Markt-Fundamentalismus
Es ist unbestritten, dass die Linke bisher in jenem rückwärtsgewandten Etatismus, den Schmolke mit Recht verwirft, ebenso stark verhaftet ist wie die FDP im staatsfeindlichen Fundamentalismus. Aber es fällt schon auf, dass Schmolke den Etatismus mehr zu fürchten scheint als den Markt-Fundamentalismus. Während er diesen mit der Finanzkrise mal so nebenbei für erledigt erklärt – als wären alle Debatten über die Umverteilung und Privatisierung sozialer Risiken schon obsolet, nur weil wir vielleicht die Hedgefonds regulieren –, legt er sich gegen den „plumpen Sozialrevisionismus“ in Teilen der Linken mächtig ins Zeug. Und ironisiert zugleich die dringend notwendige, harte und konsequente Bekämpfung des Marktfundamentalismus: „Das verführt dazu, die eigenen Truppen in Wallung zu bringen, indem man auf die anderen losknüppelt.“
Könnte es nicht sein, dass die Existenz-Krise der SPD nicht etwa durch „Sozialrevisionismus“ bedingt ist, sondern durch die Schrödersche Politik der Teil-Übernahme von Instrumenten des marktliberalen Arsenals? Wäre es nicht Zeit, jenseits des Sozialrevisionismus, aber eben auch jenseits von (Renten-)Privatisierung, Finanzmarkt-Deregulierung (siehe Steinbrück!) und lohndrückender Arbeitsmarkt-Flexibilisierung den „Sozialliberalismus“ endlich sozialdemokratisch zu definieren?
Sollte dies geschehen – und sollte es damit enden, dass die FDP, eine andere FDP als die heutige, der Attraktivität des neuen Sozialliberalismus erläge – dann sollen sie ruhig gemeinsam regieren, so wie mit jedem anderen Partner, der zu einer modernisierten Sozialdemokratie passt.
Mehrheiten mit Hilfe der Linken
Aber diesseits der Zukunftsmusik, in der Gegenwart der bestehenden Konstellationen, wäre eine Annäherung an „Pyrrhus Westerwelle“ geradezu Gift. Heute – etwa in Nordrhein-Westfalen – muss die SPD zeigen, dass es zu Merkel/Westerwelle eine Alternative unter sozialdemokratischer Führung gibt. Dass sie das mit den sehr sozialliberalen Grünen am besten kann, steht außer Frage. Darüber hinaus allerdings liegt das fehlende Potenzial nicht etwa in der Klientel der FDP (da wildern die Grünen besser). Es liegt in jenen Verlierern des Marktradikalismus, die mit dem Industrieproletariat früherer Zeiten nichts, mit der von Schmolke richtig beschriebenen Prekarisierung, der (von Schröders Agenda noch beförderten) „Erosion der Löhne“ und der „digitalen Tagelöhnerei“ sehr viel zu tun haben – also mit der sozialen Frage, wie sie sich heute stellt.
Diese soziale Frage, man kann auch sagen: den linken Flügel ihrer Wählerschaft – hat die SPD seit Schröder der entstehenden und sich stabilisierenden Linkspartei überlassen. Erst jetzt macht sie Anstalten, dieses Potenzial durch eine modernisierte, aber erkennbare Sozialstaats-Politik zurückzuholen. Bis dahin allerdings wird ein sozialer Liberalismus, der auch das Etikett „sozial“ wirklich verdient, seine Mehrheiten mit Hilfe der Linkspartei sichern müssen. Und nicht mit einer Partei, die die Sozialdemokratie wieder in den Schatten des Verdachts stellen würde, sich lieber mit neoliberaler Staatsfeindschaft zu verbünden als die Auseinandersetzung über das richtige Maß an „Staatsfreundschaft“ in der passenden Konstellation zu führen.
Stephan Hebel, geboren 1956, ist seit 25 Jahren Redakteur der . Er arbeitet unter anderem als Berlin-Korrespondent (1994-1999) und kommentiert heute als Mitglied der Chefredaktion vor allem innen- und sozialpolitische Themen, sowohl in der FR als auch in seinem Blog
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