Unidentifiziertes politisches Objekt

Europawahl Seltsamer Kontinent: Die bedeutendste Botschaft auf den EU-Wahlplakaten ist der Termin des Urnengangs. Sonst bestimmt inhaltliche Leere die Plakate

„Wir in Europa“, steht da auf blauem, gold-besterntem Himmel. Doch wer ist das: „Wir“? Der schwarz-rot-goldene Hintergrund des Pronomens zeigt es an: Deutschland ist gemeint. Und natürlich die CDU, von der dieses Wahlplakat stammt. Der darüber hinaus gehende Informationsgehalt ist dünn, die Aussage spärlich, gefordert wird nichts. Und das ist in diesen Tagen überall so. Langeweile bestimmt die Szene. „Hast Du einen Opa, schick’ ihn nach Europa.“ Das gilt auch 2009, wenigstens wenn man die Wahlplakate eines Blickes würdigt, die hier und dort, wie zufällig verstreut am Straßenrand hängen.

Seltsame Welt, seltsame Demokratie, seltsames Europa: Da ist die heftigste Wirtschaftskrise seit 1929 ausgebrochen, die Grundfesten des Gemeinwesen erbeben, gewählt wird die parlamentarische Institution eines politischen Gebildes, das für 27 Staaten zunehmend Wohl und Wehe bestimmt, aber die bedeutsamste Botschaft auf den Plakaten scheint immer noch die folgende zu sein: „Am 7. Juni ist Europawahl“.

Und das ist wirklich eine Information. Denn am Sonntag sind in manchen Bundesländern noch Pfingstferien. Das könnte wichtiger sein. Mehr als die Hälfte der Europäer haben keinerlei Interesse an den Europawahlen, sagen die Umfragen. Scheint auch noch die Sonne, so wird nur eine Minderheit ihr Kreuzchen machen.

Schläft Europa ein?

Schläft Europa ein? Mit Blick auf die Wahlplakate besteht kein Zweifel. Bedenkt man, was Spin-Doktoren und Werbefirmen sonst so alles leisten, wirkt das plakatierte Politik-Marketing für dieses schwache Event ziemlich blass. Aber in Europa geht alles seinen Gang, ob jemand wählt oder nicht.

Allenfalls die SPD legt sich in Zeug, auf verblüffende Weise: „Finanzhaie würden FDP wählen. Für ein Europa, in dem klare Regeln gelten.“ Der abgebildete Fisch zeigt zwar Zähne, aber die glaubt man ihm nicht. Nie und nimmer wird er damit die FDP fressen. Sollte unter der Maske ein Bösewicht stecken, so ist es ein Sozialdemokrat. Denn haben sie nicht kräftig mitgewirkt, die Sozialdemokraten, an einem Europa, „in dem klare Regeln herrschen“? Nur eben die falschen.

Denn das ist ja die Crux dieses UPO’s, dieses „unidentifizierten politischen Objekts“, wie der frühere Kommissionspräsident Jacques Delors die EU einmal nannte: Fast unkorrigierbar und mit Verfassungsrang hat sich die EU auf genau jene Politik festgelegt, die die Krise verursachte. Das „politische Objekt“ Europa ist ein neoliberales. Also doch zu identifizieren und von Finanzhaien bewacht.

Tummelplatz für Mauscheleien

Denn wie liest man klipp und klar auf einem FDP-Plakat? „Wähl dein Plus. EU und Du, gemeinsam, europäisch, frei.“ Mehr vom Gleichen also – die Antwort der Liberalen. Ein Europa der Plusmacher, ein Kontinent der Freiheit, der Haie aller politischen Richtungen. Für die kleineren Fische nicht sonderlich interessant. Ein Europa, dessen Verfassung scheiterte, ohne Gewaltenteilung, ohne parlamentarisches Budgetrecht, ein Tummelplatz für finanzkräftige Lobbys und Mauscheleien aller Arten. Wer sonst als die Profiteure sollte daran Interesse haben? Noch nicht einmal eigene Gesetzesentwürfe kann das Europäische Parlament auf den Weg bringen, von Volksabstimmungen ganz zu schweigen.

Umfragen haben gezeigt, dass zwei Drittel der Europäer denken, ihre Stimme würde doch nichts ändern. Die Befragten fordern aber, die EU solle sich zuvörderst um wirtschaftliche Belange kümmern, ahnt man doch, dass bald Zahltag sein wird. Arbeitslosigkeit, Wirtschaftswachstum, Inflation und Kaufkraft seien die wichtigsten Themen. Und auch die Bauern habe ihre Sorgen. Aber ausgerechnet im Hinblick auf Finanz-, Steuer und Agrarpolitik hat das Europäische Parlament besonders wenig zu melden. Das entspricht durchaus der neoliberalen Grundidee: Eine vom Volke her durchgesetzte Wirtschafts- und Sozialpolitik soll es nicht geben. Die bisherige Konstruktion läuft auf ein einziges Konzept hinaus: Wir kennen es – „There is no alternative“. Dennoch auftauchende Alternativen werden zur Zeit nationalstaatlich durchgesetzt. Die EU schaut zu oder reagiert mit Ausnahmevorschriften.

Opa in Europa

„Alles heiße Luft“, so ein anderes Plakat der SPD zur Europawahl. Ein Fön-Gesicht mit Krawatte pustet Richtung Linkspartei. „Heiße Luft würde DIE LINKE wählen.“ Das mit der heißen Luft bringt manches in diesem Wahlkampf auf den Nenner: Es ist aber nicht ausschließlich die Linke, die heiße Luft ablässt. Ihr Spitzenkandidat Lothar Bisky blickt gütig von seinen Plakaten und irritiert niemanden. Eben Opa in Europa.

Aber welcher Partei steht mehr als „heiße Luft“ zur Verfügung? Denn wie wäre es möglich, unter diesen Europa-Verhältnissen die zentralen Anliegen der Menschen überhaupt nur vorzubringen? Zum Beispiel ihr Bedürfnis nach sozialer Sicherung. In Straßburg weht ein Wüstenwind, der die Interessen der Basis wie bei einem Sandsturm vor sich her fegt. Am Horizont vielleicht die Fata Morgana wirklicher Demokratie. Aber nur ganz schemenhaft und in der Ferne.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Verändern Sie mit guten Argumenten die Welt. Testen Sie den Freitag in Ihrem bevorzugten Format — kostenlos.

Print

Die wichtigsten Seiten zum Weltgeschehen auf Papier: Holen Sie sich den Freitag jede Woche nach Hause.

Jetzt kostenlos testen

Digital

Ohne Limits auf dem Gerät Ihrer Wahl: Entdecken Sie Freitag+ auf unserer Website und lesen Sie jede Ausgabe als E-Paper.

Jetzt kostenlos testen

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden