Vom Aushungern zum Auslöschen

Israel zerstört den Gaza-Streifen Olmert und Livni verwandeln die Nahost-Diplomatie in ein Trümmerfeld. Der neue US-Präsident wird es dennoch betreten müssen, will er das verheerende Bush-Erbe abtragen.

Es sei „unverhältnismäßig“, was die israelische Militärmaschine im Gaza-Streifen anrichtet, verkünden die Vereinten Nationen und die Europäische Union seit 48 Stunden. Nichts ist falscher als das. Die Luftangriffe und der Tod von mehr als 300 Menschen stehen in einem logischen Verhältnis zum Zustand eines Friedensprozesses, der seit langem keiner mehr ist. Sie widerspiegeln adäquat den Zustand einer israelischen Regierung, die nicht abgewirtschaftet hat, sondern noch immer von einem der Korruption überführten Premier geführt wird.

Die Gaza-Aggression bezeugt überdies den Drang, vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor in Amerika die Administrationen wechseln. Ehud Olmert und Zipi Livni tun, was sie können, der diplomatischen Vernunft ein Leichentuch zu weben und dem neuen US-Präsidenten über die Schultern zu werfen, bevor der auch nur einen Schritt wagt, das verheerende Erbe der Bush-Jahre im Nahen Osten abzutragen. Schon jetzt steht fest, Obamas vage angedeutete Inventur der amerikanisch-iranischen Beziehungen wird nach der von Israel gewollten Polarisierung in der Region, bei der sich Teheran nicht zurückhält, auf absehbare Zeit ausbleiben müssen. Wie kann ein amerikanischer Präsident den Todfeinden der Israelis Avancen machen? – würde es sonst heißen. Tändelt er doch mit der islamischen Gemeinschaft herum, wie ihm Wahlkampf oft vermutet? All diesen Motiven Israels lässt sich mit einem Krieg gegen Gaza und den davon ausgelösten regionalen Beben am besten dienen. Weg und Ziel könnten „verhältnismäßiger“ kaum sein, zumal Olmert das Libanon-Debakel vom Juni 2006 im Nacken sitzt.

Man kann der Hamas den Vorwurf machen, dass sie ihre Kräfte nach dem Ende der Waffenruhe am 19. Dezember maßlos überschätzt und damit den Tod Hunderter Landsleute provoziert hat. Aber man kann sie nicht dafür verurteilen, wenn sie sich wehrt gegen Blockade, Belagerung und israelischen Staatsterror. Und man darf auch nachvollziehen, dass sie den seit einem Jahr eingehaltenen Waffenstillstand als vertane Zeit empfindet, weil die Israelis in diesen zwölf Monaten nichts getan haben, die Isolation von anderthalb Millionen Menschen zu lockern.

Nach dem Abzug der israelische Armee im August 2005 aus dem Gaza-Streifen auf die Grenze zum Gaza-Streifen wurde eine humanitäre Katastrophe sondergleichen heraufbeschworen. Die so genannte internationale Gemeinschaft, die sich jetzt so bestürzt gibt, sah seelenruhig zu, wie Israel damit begann, Gaza regelrecht auszuhungern und damit viel besser zu beherrschen als zu Zeiten direkter militärischer Präsenz. So wurden anderthalb Millionen Palästinenser wie Versuchstiere behandelt, die ein zynisches Experiment ertragen mussten. Israel schien Antwort auf bestimmte Fragen zu suchen: Wie weit kann man diese Quarantäne treiben? Wie lässt sich der Druck im Kessel erhöhen, bis er explodiert, wie die Abriegelung noch unerbittlicher handhaben, damit nur eine Versorgung übrig bleibt, die aus Leben ein Überleben und aus Existieren ein Vegetieren macht? Die Regierungen Sharon und Olmert verhinderten nach dem August 2005 den Bau eines Hafens in Gaza. Sie veranlassten die Zerstörung des internationalen Flughafens von Gaza-City, der erst mit den Oslo-Verträgen von 1993/94 entstanden war. Und sie ließen das gesamte Gebiet von hoch effizienten Grenzanlagen einzäunen. Es blieb eine einzige Verbindung mit der Außenwelt: der Grenzübergang Rafah nach Ägypten. Der konnte nicht ganz gesperrt werden, sonst wäre die Regierung in Kairo als Kollaborateur Israels erschienen. Doch auch diese Passage wurde immer undurchlässiger, je länger die Blockade dauerte. In Jerusalem wusste man währenddessen sehr genau, wer zum politischen Adressaten all dieser Demütigungen erkoren war: Mit der Hamas handelte es sich um eben jene Palästinenser-Organisation, die am 29. Januar 2006 von der internationalen Gemeinschaft und Israel geforderte Wahlen haushoch gegen eine korrupte Fatah gewonnen hatte.

Warum eigentlich redet heute keiner mehr davon, dass Amerikas Ex-Präsident Carter als ranghöchster Wahlbeobachter dieses Votum als frei und fair bewertete. Und selbst George Bush seine Vision vom Export der Demokratie in den Nahen Osten erfüllt glaubte. Er tat dies freilich nur, bis das Wahlergebnis vorlag. Da wusste man, die Palästinenser hatten als Demokraten versagt. Statt die "guten Araber" wie Mahmud Abbas und seine Fatah zu wählen, die in den USA angebetet werden, wählten sie die "bösen Araber", die Allah anbeten. Die israelische Regierung hatte, was sie wollte. Unter dem beifälligen Nicken vor allem der Europäischen Union verkündete sie: Nun werde der Gaza-Streifen von "Terroristen“ regiert, die nur eines verdienten, boykottiert und blockiert zu werden. Die Hamas wurde zum Faustpfand, um aus verhandlungswilligen Realpolitikern wie Mahmud Abbas willfährige Kollaborateure zu machen. Wer nicht in der Verdacht geraten wollte, mit „Terroristen“ zu paktieren, musste mehr auf Distanz gegenüber der Hamas als gegenüber Israel bedacht sein. Dass unter diesen Umständen von Olmert und Livni viel von einer Zwei-Staaten-Lösung geredet, aber in Wirklichkeit nichts dafür getan werden musste, lag auf der Hand. Im Notfall ließ sich immer noch der Druck auf Gaza derart erhöhen, dass die Hamas militärisch reagierte und Israel mit überlegenen Kräften parieren konnte. Zum eigenen Schutz und zur Selbstverteidigung wie im Augenblick. Auch wenn es zutreffender wäre, von einem Blutbann zu sprechen, der gegen die Palästinenser verhängt wurde und offenbar solange Bestand haben soll, bis die Verstümmelung dieses Volkes dessen Existenz überhaupt in Frage stellt.

Mahmud Abbas und die Fatah können unter diesen Umständen nicht zur Tagesordnung übergehen und an einen Ort zurückkehren, den man im Westen gern Verhandlungstisch nennt, wohlwissend, dass er für die Palästinenser zum Opferaltar wurde, vor dem sie ihren Rechten und sich selbst abzuschwören haben. Wird dieser Kniefall verweigert, sind das Label „Terrorist“ und der nächste Militärschlag fällig.

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