Der Große Bruder ist zu fett

REISE DURCH CITY UND COUNTY Die USA brauchen ökologische Entwicklungshilfe

Warum, so fragten sich viele Beobachter nach dem Brief des US-Präsidenten in den Iden des März an vier konservative Senatoren, warum steigt die neue Administration aus dem internationalen Konsens über eine koordinierte Klimapolitik aus? Warum wird das Kyoto-Protokoll über die Reduzierung der Treibhausgase zu Makulatur degradiert? Die Antwort hieß vornehmlich: Die Amerikaner wollen es einfach nicht, keine internationale Solidarität - "America first". Andere Deutungen bemühten Geschichte und Psychologie: Niemals könnten die Amerikaner einen Vertrag ratifizieren, der in Kyoto, der ehemaligen Hauptstadt eines Erzfeindes, formuliert wurde.

Eine zweiwöchige Reise von Albany (Staat New York) nach Atlanta (Staat Georgia) erlaubt eine einfache, höchst aufschlussreiche Antwort auf die Frage nach dem Warum des hastigen Ausstiegs der Amerikaner aus dem Kyoto-Prozess: Sie können es nicht - sie schaffen es nicht! Sieben Prozent Emissionsreduzierung für die USA bis 2010 gegenüber 1990 - so steht es im Vertragsentwurf für die internationale Klimapolitik - was aber, angesichts des weiteren Wirtschaftswachstums real etwa 30 Prozent bedeutet. Es ist nicht nur eine politik-konservative Administration, die sich dem "Kyoto-Protokoll" in den Weg stellt - es ist auch die struktur-konservative US-Wirtschaft, die ihm im Wege steht ...

Hier wird Tucholsky täglich widerlegt

Von Albany nach Atlanta, das sind 2.300 Meilen (zirka. 3.600 Kilometer) durch eine teils abwechslungsreiche, teils monotone Landschaft mit dem Auto, denn eine Alternative gibt es nicht. Abertausende Trucker sind unterwegs, Vierzig-Meter-Ungetüme, die aus Sicherheitsgründen in Europa nicht fahren dürften, auch wenn bei vielen Volvo an der Kühlerhaube steht. Unterwegs ist nicht ein "Greyhound" zu sehen, keiner jener legendären Busse, die nur Ost-West, nicht aber Nord-Süd zu verkehren scheinen. Nur ein einziger Zug lässt sich während der ganzen Reise sehen und hören (!). Ein durchaus imponierendes Bild: Fünf Loks und 130 Güterwaggons, aber im 30-Meilen-Tempo.

Dagegen suchen wir unterwegs vergeblich nach Windmühlen. Auch keinerlei andere Zeichen erneuerbarer Energien lassen sich erblicken, weder Warmwasser-Aufbereiter noch Photovoltaikanlagen - weder auf den Hochhäusern von New York und Atlanta, noch in den weiträumig umzäunten Neubaugebieten North- und South-Carolinas. Überhaupt die Siedlungen draußen, das andere, das eigentliche Amerika: Sie nennen sich City und County, doch wo die Stadt oder der Kreis beginnt und endet, lässt sich oft nicht auszumachen. Die meisten dieser Städte existieren ohne Zentrum, ohne Marktplatz, ohne Hotel; es gibt keinen Tante-Emma-Laden und keine Restaurants. Die "Charta von Athen" zeigt in Amerika ihr wahres, ihr hässliches Gesicht: Fünf Meilen vor der (sogenannten) Stadt beginnen in großer Regelmäßigkeit drei Hinweise, auf die nächste "Lodging Area" - die Holiday Inn und all ihre Konkurrenten -, die "Food Area" - die McDonalds und die Pizza Huts - und die ebenfalls zahlreichen "Gas-Stations". Diese strikte Trennung urbaner Funktionen hat die nordamerikanischen Städte und Landschaften zerstört; kein harmonisches Gefüge mehr, nichts ist qualitativ anspruchsvoll. Hier wird Tucholsky täglich widerlegt: Amerika hat es nicht besser - hier ist Amerika ein armes Land ...

Was wird, wenn das Öl ausgeht?

Wie nur soll in solchen Städten die Botschaft der "Agenda 21" ankommen, dass gemeinsame Anstrengungen die lokalen Kräfte stärken und zu einer neuen Korrespondenz der ökonomischen, sozialen und ökologischen Dimensionen von Entwicklung führen können? Wenn der Nachbar nicht mehr zu Fuß und der Markt nur mit dem Auto erreichbar ist und alles im Lärm untergeht - wie soll da Nachhaltigkeit entstehen? Doch vielleicht haben die Amerikaner die Seelenlosigkeit ihrer Städte längst verinnerlicht: Nirgendwo sonst habe ich so viele Kirchen gesehen wie auf dieser Reise. Auch eine sich in Mobilität erschöpfende Gesellschaft braucht offenbar einen Ruhepunkt. Dumm nur, dass selbst die Kirche lediglich mit dem Auto erreicht werden kann. Allzu gern möchte man unsere Großphilosophen und Großökonomen in dieses Amerika jenseits der spektakulären Schauplätze schicken, um sie in ihrer Euphorie auszubremsen, dass dies das Gesegnete Land sei ...

Die US-amerikanische Ökonomie expandiert weiter, doch sie ist nicht schlank, sie ist fett, material-, transport- und energieintensiv, von Entkoppelung vom Bruttosozialprodukt keine Spur. Selbst die New Economy - die Computer-Welt - ist im Alltag kaum zu bemerken; kein Computer-Café, kein Internet-Zugang im Hotel oder in der Airport-Lounge. Die New Economy hat die Abhängigkeit vom Auto offenbar nicht reduziert. Was wird aus den USA werden, wenn das Öl ausgeht?

Diesel ist zwar fast so teuer wie Benzin, doch der Preis liegt bei nur 1,40 Dollar - nicht für den Liter, für die Gallone (3,785 Liter)! Der große Markterfolg der spritfressenden Achtzylinder- Geländewagen (der SUVs, sport utility vehicles) mag ökonomisch überwältigend erscheinen, ökologisch ist er schlicht katastrophal. Nahezu jedes dritte Gefährt, das uns auf der Reise begegnete, ist ein solcher moderner Dinosaurier; immerhin, wir sahen einen ersten, aber einzigen Smart.

Und noch ein, wenn auch anderes Beispiel der Fettleibigkeit: Nirgendwo in der Welt dürfte es so viele übergewichtige, ja regelrecht fette Menschen geben wie in den USA, woran Fast-Food-Produkte und Drive-in-drive-thru-Ernährungsgewohnheiten gleichermaßen Anteil haben dürften.

Ob es nicht auch etwas Positives zu berichten gibt? Ja, gewiss! Viele Sprüche am Straßenrand und sicherlich manch guter Wille dahinter; "Trees grow jobs" - Bäume schaffen Arbeitsplätze; "Speed limit" - Geschwindigkeitsbegrenzung auf zumeist 55 Meilen (85 km/h), nur manchmal 70 Meilen; "No trash on highways" - keinen Müll auf Fernstraßen, was gleich mit einem Anreiz- und einem Sanktionsmechanismus verknüpft wird: "Adopt a highway", ein Aufruf zur Säuberung der Straßen, und "1000 Dollar fine or prison", Strafe und Gefängnis bei Regelverstoß.

Die Regierung scheint indes wenig zu unternehmen, den Übergang ins Solarzeitalter systematisch vorzubereiten. Mit Wehmut gedenkt man der amerikanischen Kollegen, die als erste über diese Perspektive nachgedacht haben.

"Die Preise von heute bestimmen die Strukturen von morgen", so pflegte der frühere deutsche Umweltminister Klaus Töpfer zu sagen. Die heutigen Energie- und Materialpreise in den USA - daran dürfte kaum Zweifel bestehen - ergeben keine Zukunft, die nachhaltig ist, den Umstieg von der Öl- in die Solarwirtschaft erlaubt und begünstigt - und so der US-Regierung die Möglichkeit gäbe, das "Kyoto-Protokoll" doch noch zu ratifizieren. Ob der derzeitige Umweltminister Jürgen Trittin dies seiner amerikanischen Kollegin wohl vermitteln kann, indem er ihr ein paar Beispiele des best practice in Deutschland und Europa zeigt? Schließlich gelten die Amerikaner im Allgemeinen ja als knallhart kalkulierende Praktiker. Sollten Trittin dazu die passenden Argumente fehlen, könnte man ihn auf eine Reise von Albany nach Atlanta schicken - um des "Kyoto-Protokolls" willen und der globalen Ökologie zuliebe.

Udo Ernst Simonis gehört seit Jahren zu den profiliertesten Umweltpolitikern und ökologischen Ökonomen in Deutschland. Er wurde im vergangenen Jahr zum Präsidenten der World Society for EKISTICS (WSE/Internationale Vereinigung für Stadt- und Regionalplanung mit Sitz in Athen) gewählt und ist seit 1999 Mitglied des Committee for Development Policy (CDP) der Vereinten Nationen. Von 1997 bis 1999 war er Vorsitzender der Vereinigung deutscher Wissenschaftler (VDW). Für sein umweltpolitisches Engagement, zu dem auch - seit 1992 - die Mitherausgeberschaft des Bandes JAHRBUCH ÖKOLOGIE gehört, wurde er 1998 mit dem Umweltpreis Wissenschaft des Bundesdeutschen Arbeitskreises Umweltbewusstes Management (B.A.U.M.) ausgezeichnet. Zur Zeit arbeitet Simonis als Professor für Umweltpolitik am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB).

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