Nairobi blieb zu viel schuldig

Klimapolitisch ein verschenktes Jahr Aktuell

"Wir brauchen die Drohung, um zu wissen, was es zu bewahren gilt. Nur ihre Voraussicht lässt uns erkennen, was wir wirklich schätzen"Hans Jonas

Die äußeren Umstände für eine aktivere Phase der internationalen Klimapolitik schienen günstig: Der Al Gore-Film An Unconvenient Truth wurde weltweit als Weckruf in Klimafragen empfunden, der Bericht von Sir Nicholas Stern The Economics of Climate Change zeigte, wie extrem hoch die Kosten weiteren Nichtstuns sein werden. Wären Gores Film und Sterns Report explizit oder auch nur implizit Grundlage der Weltklimakonferenz in Nairobi gewesen, hätten dort Eile statt Langweile walten und völlig andere Tagesordnungspunkte gelten müssen: Die Architektur eines "Kyoto II-Vertrages", ehrgeizigere Ziele, zusätzliche Maßnahmen, gestärkte Institutionen und neue Akteure. Denn die Zeit drängt, unübersehbar beschleunigt sich der Klimawandel, das Kyoto-Protokoll läuft 2012 aus - doch eine klimapolitische Auszeit darf es unter gar keinen Umständen geben.

Selbst wenn die Erderwärmung bis Ende des Jahrhunderts nicht - wie vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) für möglich gehalten - um bis zu 5,8 Grad Celsius steigen sollte, müssen die globalen Treibhausgasemissionen dennoch möglichst schnell und bis 2050 mindestens halbiert werden, auf dass nicht die Schwelle zur Klimakatastrophe überschritten wird.

Diese kolossale Aufgabe verlangt sehr viel mehr Radikalität beim Strukturwandel, bei Lebensstilen, Preisen und Werten, als bisher für gerade einmal 35 Industrieländer im Kyoto-I-Vertrag vereinbart ist. Sicher, Deutschland kann seine eingegangenen Verpflichtungen zur Reduzierung von Kohlendioxid bis zum Jahr 2012 noch schaffen, aber schon das "Europa der 25" - in zehn Tagen die "EU der 27" mit den Debütanten Rumänien und Bulgarien - wird dazu nicht mehr in der Lage sein. Was allein deshalb prekär ist, weil die USA, Australien und Kanada, aber auch viele Schwellen- und Entwicklungsländer in den vergangenen Jahren zusätzlich emittiert haben.

In Nairobi schien die EU vergessen zu haben, dass sie sich selbst gern als "Vorreiter" des Klimaschutzes empfindet. Ein Energie-Fonds, der die Kreditrisiken für Investitionen in klimafreundliche Technologien, vorzugsweise in Afrika, übernehmen soll, war auf diesem Weltklimagipfel ihr einzig nennenswertes Angebot. Die USA hielten sich diesmal eher im Hintergrund und machten ungewohnte Lockerungsübungen - landesweite Obergrenzen für Treibhausgase seien denkbar, orakelte man. Japan tat nur wenig zur aktiven Verteidigung des "Kyoto-Protokolls". China, Brasilien und Indien sperrten sich gegen Zusagen zur Emissionsreduzierung und warteten erst einmal weiter ab.

Man hätte von der Nairobi-Konferenz wenigstens erwarten können, dass sie sich darauf verständigt, ohne Verzug einen Kyoto II-Vertrag auszuhandeln und gerade das nicht weiter zu verzögern. Kofi Annan, der scheidende UN-Generalsekretär, hat wohl auch unter diesem Eindruck mehr "Leadership" in Umweltfragen gefordert. Er selbst war dazu - weshalb auch immer - nicht imstande. Vielleicht wollte er deshalb seinem Nachfolger Ban Ki-moon dieses fast selbstverständlich anmutende Gebot mit auf den Weg geben.

2006 erscheint klimapolitisch als verlorenes Jahr. In Nairobi wurde der globale Reifetest nicht bestanden, so dass sich an der Schwelle zum neuen Jahr mehr denn je die existenzielle Frage stellt: Wie kann unser Klimasystem vor dem Kollaps bewahrt werden, wenn die ökonomischen Interessen weiterhin die ökologischen Interessen dominieren - wenn es zwar eine Weltbank (WB) und eine Welthandelsorganisation (WTO) gibt, aber keine Weltumweltorganisation (GEO). Parität von Ökonomie und Ökologie ist das Mindeste, was zu schaffen wäre, wenn - wie Sir Nicholas Stern sagt - das Klimaproblem tatsächlich das größte Marktversagen darstellt, das es je gab. Internationale Klimapolitik braucht Tatkraft und Dynamik, sie braucht vor allem Fortschritt ohne Rücksicht auf mögliche Profiteure des Untergangs. Das allerdings wird es nur geben, wenn alle Akteure - Regierungen, Unternehmen, Bürger - nicht nur den Klimawandel als Realität akzeptieren, sondern auch die Verantwortung dafür annehmen.


Udo Ernst Simonis

Emeritus für Umweltforschung am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB)


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