Gabriele Dietze vermutet zu Recht, dass hinter der Debatte um "Leitkultur" und das "Ende des Multikulturalismus" eine Definition eines neuen deutsch-europäischen "Wir" steckt. Dass die identitätsstiftende Abgrenzung Europas sich neben den USA als wichtigstem globalen Konkurrenten auch gegen ein "orientalisches" Außen richtet, ist nicht von der Hand zu weisen. In jüngster Zeit tobte sich dieses "Wir" vor allem in der selbst von liberalen Historikern mit teilweise haarsträubenden Argumenten geführten Debatte um den EU-Beitritt der Türkei aus. Fraglos ist dies auch mit einer "Abkapselung und Austreibung des orientalischen Innen" (Dietze) in Gestalt der muslimischen Diaspora verknüpft.
Doch trotz all dieser Argumente sollte man nicht ausblenden, dass der
dass der Mord an dem "Islamismuskritiker" Theo van Gogh, der die erneute Integrationsdebatte befeuert hat, tatsächlich Ausfluss einer mörderischen islamistischen Ideologie war. Laut dem Bekennerbrief, der van Gogh mit einem Messer in den sterbenden Leib gerammt wurde, galt der Hass des Täters vor allem dessen Mitarbeiterin und Drehbuchautorin Ayaan Hirsi Ali, für die van Gogh quasi stellvertretend sterben musste. Der islamistische Hass gegen die Autorin, die islamisch begründete Frauenunterdrückung anprangerte, ist in Gabriele Dietzes Überlegungen genauso wenig erwähnt wie der in dem Brief ebenfalls nachlesbare antisemitische Verschwörungswahn.Nun ist hierzulande ein Umdenken beim lange Zeit von Unkenntnis und Verharmlosung geprägten Umgang mit dem Islamismus feststellbar. Derzeit wird dieses Umdenken jedoch im gesellschaftlichen Mainstream von einer Verschlechterung der Stimmung gegen MigrantInnen mit muslimischem Hintergrund überlagert. Die Feuilletons denunzieren nun den Multikulturalismus als harmoniesüchtiges Gutmenschentum und Diktatur der Political Correctness, ein schon seit langem aus neurechten Kreisen bekannter Gestus. Völlig richtig ist Gabriele Dietzes Beobachtung, dass sich in der linken Hilflosigkeit gegenüber solchen rechten Ausrufungen des "Endes der multikulturellen Gesellschaft" das Elend der im links-alternativen Milieu lange gepflegten Multikulti-Ideologie widerspiegelt: Diese beruht auf lediglich ins Positive gewendeten kulturalistischen Zuschreibungen des "Anderen" und einem statischen Kulturbegriff. Im Schatten dieser Ideologie gedieh daher auch allzu lange die Verharmlosung des Islamismus als Ausdruck kultureller Authentizität. Dessen Charakter einer politischen Kampfideologie mit mörderischem Potenzial wurde gerade nach dem 11. September auch noch als irgendwie "widerständig" oder doch zumindest nachvollziehbare, wenn auch falsche Reaktion auf westliche "Demütigungen" missverstanden. Leider ist auch international ein Großteil der postkolonialen Theoretiker unter dem Eindruck des "War on Terror" auf derartige Deutungsmuster zurückgefallen.So wird denn auch von postkolonialistisch angehauchten Kulturtheoretikern wie Werner Schiffauer die antidemokratische (frauen- und schwulenfeindliche, vor allem aber antisemitische Haltungen verbreitende ) Ausrichtung islamistischer Ideologien in migrantischen Milieus systematisch heruntergespielt und Islamisierung nun gerade als selbstbewusste Positionierung transnationaler Subjekte schön geredet. Aus der Kritik daran, dass die Mehrheitsgesellschaft die Schuld für das Integrationsversagen auf die Communities der Migrantinnen abwälze (was in der populären Rede von den Parallelgesellschaften stets mitschwingt), wird die Apologie der Parallelgesellschaft im Namen der Differenz. Der von islamistischen Gruppierungen betriebene Versuch, tatsächlich von Scharia-Normen bestimmte, islamisierte Gegenwelten über die Abmeldung vom koedukativen Sport- und Schwimmunterricht, das Kopftuchtragen von Lehrerinnen und dergleichen durchzusetzen, gerät bei Schiffauer regelmäßig zum Einfordern von "Minderheitenrechten".Sicher stoßen die vom Postkolonialismus viel beschworenen "Vermischungen und Hybridisierungen" der Zugewanderten bei multikulti-gestimmten Teilen der Mehrheitsgesellschaft auf ideologisch bedingte Wahrnehmungsschwierigkeiten, wie Dietze schreibt. Aber per se ist auch "Hybridität" noch lange kein Ausweis für emanzipatorische Gesinnungen ihrer TrägerInnen. Bekanntlich sind nicht wenige islamistische Attentäter und Agitatoren von ihrem biographischen Hintergrund her durchaus als "hybride" Existenzen zu sehen. Auch ist es fragwürdig, islamistische Tendenzen unter MigrantInnen als bloß "reaktive Bildung neuer Traditionalismen und Fundamentalismen" (Dietze) zu sehen. Islamismus und Antisemitismus unter Migranten nur auf Ausgrenzung zurückzuführen kann nämlich auch bedeuten, die Vetrteteren dieser Ideologien nicht als politische Subjekte ernst zu nehmen. Nathan Sznaider hat kürzlich bei einer Veranstaltung in Berlin etwas polemisch, aber durchaus treffend bemerkt, dass es den "orientalistischen Blick" nochmals potenzieren würde, wenn man den arabischen und islamistischen Antisemitismus, im Gegensatz zu dem von europäischen Rechtsradikalen, nicht als genuine Ideologiebildung begreife und ihm so gewissermaßen die "Authenzität" abspreche.Gabriele Dietze benutzt nun in Anlehnung an Edward Saids Orientalismus-Konzept den Begriff des "Okzidentalismus" für die christlich-abendländische Definition des Eigenen gegen ein muslimisches "Außen". Genau diesen Begriff haben Ian Buruma und Avishai Margalit vor einiger Zeit allerdings benutzt, um das von Said stets ausgesparte Gegenstück zum Orientalismus, das "Feindbild Westen" zu beschreiben: "Okzidentalismus ist ein Bündel von Bildern und Vorstellungen vom Westen in den Köpfen seiner Feinde. Der Begriff Okzidentalismus ist für uns eine sarkastische Analogiebildung zu Edward Saids Konzept des Orientalismus, worunter dieser einflussreiche Autor die systematisch feindselige Verkennung des Orients durch den Okzident verstanden wissen will. Okzidentalismus besteht in seinen unterschiedlichen Versionen meist aus vier Elementen: der Stadt, dem Bürgerlichen, der Vernunft und der Gleichberechtigung der Frau. Jeder dieser Punkte beinhaltet eine Reihe von Attributen - wie etwa Überheblichkeit, Schwäche, Gier, Verdorbenheit und Dekadenz -, die als typisch westliche oder sogar amerikanische Eigenschaften ins Feld geführt werden" (s. taz, 6. 4. 2002).Genau in diesem Sinne müsste der von Gabriele Dietze geforderte "kritische Okzidentalismus" auch die islamistische Ideologiebildung ins Auge fassen können, wenn er nicht wieder in differenztheoretischen Sackgassen enden will. Das hieße, islamistische oder auch panarabische Ideologien ebenso als identitäre und ausgrenzende Reaktion auf die kapitalistische Moderne zu begreifen wie die westliche Identitätsbildung durch Abgrenzung zu einem orientalischen Anderen. Allerdings fragt sich, wozu dann noch der Begriff des "kritischen Okzidentalismus" nötig ist. Wie wäre es stattdessen mit einem an die Selbstreflexion der Aufklärung im Sinne der kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer anknüpfenden "kritischen Universalismus"? Von solch einer Position aus müsste es möglich sein, die eigene "fremdenfeindliche Abkapselung und Austreibung des orientalischen Innen" samt den zugrundeliegenden Imaginationen des "Fremden" genauso kritisch ins Auge zu fassen wie den Islamismus mit seinen antisemitischen, frauen- und schwulenverachtenden Gehalten. Vor allem würde das bedeuten, diese Ideologie und ihre TrägerInnen genauso als Teil dieser Gesellschaft zu begreifen wie Rassismus und Antisemitismus aus der deutschen "Mitte der Gesellschaft" und hier politisch zu bekämpfen, statt sie als Zeichen eines angeblich kulturell unvereinbaren "Anderen" - buchstäblich! - abzuschieben. Fatal ist es jedenfalls, über Islamismus nun zu schweigen aus Angst, dem Umschlag der derzeit grassierenden Anti-Multikulti-Hysterie in offenen Rassismus Vorschub zu leisten. Denn genau dadurch würde denjenigen das Feld überlassen, die sich zwar nie ernsthaft mit den wirklichen Gefahren der Verbreitung islamistischer Ideologien - etwa für weltlich ausgerichtete emanzipierte Migrantinnen oder jüdische Menschen in diesem Land - beschäftigt haben, aber nun mit populistischen Vorschlägen gegen die "islamistische Bedrohung unserer christlich-deutschen Leitkultur" die Stimmung anheizen.