Der Tag, an dem ich meinen Eltern mitteilte, ich wolle Journalist werden, war ein Samstag. Auf dem Herd dampfte bereits die Mittagssuppe, langsam beschlugen die Fenster. Nach einem kurzen Augenblick stand mein Vater auf, murmelte das Wort "Jour-nal-is-mus", als wolle er die Silben einzeln schmecken, schaute mir ins Gesicht und sagte: "Alles, was in der DDR mit Â-mus endet, studiert man nicht - jedenfalls nicht freiwillig." Damit war für ihn die Sache erledigt.
Ortswechsel: Köln, im September 1999
In einem Vorort lebt der ehemalige Leiter der Featureabteilung des Deutschlandfunks, Heinz Klunker. Er studierte von 1952 bis 1955 am damaligen Institut für Publizistik in Leipzig. Vor uns auf dem Tisch liegt ein Aktenordner mit einer wissenschaftlichen Studie, darin ein Artikel, gezeichnet mit H.K., gedruckt vor über 40 Jahren in der Sächsischen Zeitung. Damals erhielt der Schüler Heinz Klunker ein Stipendium und verfasste auf Anregung seines Lehrers einen Danktext an Walter Ulbricht, den er dann Tage später in der Zeitung wiederfand. Aus dieser Zeit stammt auch Klunkers Entschluss, Journalist zu werden.
Die Großstadt war für ihn eine fremde Welt und dieses Institut für Publizistik noch keine Merkwürdigkeit. Es dauerte einige Wochen, bis Heinz Klunker endlich den ersehnten Internatsplatz erhielt. Sein neues Zuhause teilte er mit vier jungen Männern. Einer von ihnen war der spätere DDR-Rundfunkjournalist Siegfried Weißkönig. An den Wänden hingen Lautsprecher, aus denen eine Stimme zu Arbeitseinsätzen aufrief und Neuigkeiten verbreitete. Nach einer mit Skatkarten durchwachten Nacht - Klunker schützte auf Weisung der Dozenten das Institut vor westlichen Agenten - betrat er früh am Morgen das Zimmer. Sein Kommilitone Weißkönig saß im Bett, zeigte auf den Lautsprecher und deutete mit einer Geste einen Schnitt durch seine eigene Kehle an. Einmal, zweimal, die gleiche Bewegung. Und Klunker hörte nur das geflüsterte Wort "Stalin", dann hatte er begriffen; es war der 5. März 1953, und mit den Menschen der Sowjetunion heulten auch die Mädchen des Instituts um den Generalissimus. An einer spontanen Trauer-Demonstration durfte Heinz Klunker nicht teilnehmen, da er in einem weißen Trenchcoat erschien und kein FDJ-Hemd mit Trauerflor trug. In dieser Auseinandersetzung deutete sich sein erster politischer Konflikt an.
Mein Studium begann im September 1989.
Hinter mir lag ein Volontariat bei der Nachrichtenagentur ADN- meine Probezeit fürs Studium. Nach diesem Jahr in der Praxis mussten sich alle angehenden Direktstudenten erneut einer Aufnahmeprüfung stellen. Dazu trafen sich jährlich Dozenten und Professoren mit Journalisten des Hör- und Fernsehfunks und der Presse der DDR in Bad Saarow unweit Berlins, um ihre zukünftigen Eleven auszuwählen. Die Prozedur dauerte eine Woche und beinhaltete mehrere Tests zur Allgemeinbildung, Sprachklausuren in russischer und englischer oder französischer Sprache, sowie eine selbst recherchierte Reportage. Jeden Abend gab es Gruppengespräche. Drei Bewerber saßen mit jeweils einem Betreuer zusammen und erörterten die aktuell-politische Situation. Unser Gesprächspartner war circa 50 Jahre alt, er wollte mehr über Geschichte wissen als über das aktuelle Zeitgeschehen. Auf eine Standardfrage, wie es denn nun bei mir mit dem Parteieintritt aussehe, redete ich mich heraus: Noch nicht reif genug. Am letzten Abend teilte uns Helmut Freier seine eigentliche Aufgabe mit. Er hatte den Auftrag, einen von uns dreien auszuwählen, der nicht in Leipzig studieren darf. Und an diesem Frühlingsabend erzählte Freier über sich, seine Arbeit als Redakteur bei der Aktuellen Kamera, der Nachrichtensendung des DDR-Fernsehens, über seine fünf Kinder und Perestroika und Glasnost. Er hat uns versprochen, dass er sich dafür einsetzt, dass wir alle studieren werden und - er hat Wort gehalten. Offensichtlich spürte Freier als Nachrichtenchef den Druck der Abteilung für Agitation und Propaganda im Zentralkomitee anders als die Professoren in Leipzig.
Aufnahmeprüfungen gab es immer, egal, ob die Studenten nun am Anfang oder gegen Ende der Deutschen Demokratischen Republik immatrikuliert wurden. Anders war das am Anfang der Journalistik-Ausbildung im November 1916. Der in Leipzig lehrende Nationalökonom Karl Bücher überführte die an seinem staatswissenschaftlichen Seminar bestehende zeitungskundliche Abteilung in das erste Institut für Zeitungskunde an einer deutschen Universität. Zehn Jahre später wurde nach dem Ausscheiden Karl Büchers aus der Alma mater Lipsensis das erste zeitungskundliche Ordinariat an einer deutschen Hochschule eingerichtet. Seit diesem Zeitpunkt rangen die Gelehrten bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten um die Anerkennung des Fachs als eine eigenständige akademische Disziplin. Dann kam der Krieg, die Universität wurde geschlossen und als die sowjetische Besatzungsmacht 1946 kurz nach der Wiedereröffnung bemerkte, dass an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät das Institut für Journalistik weitergeführt wurde, entstand kurzerhand durch SMAD-Befehl an der neugegründeten Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät ebenfalls ein Institut für Publizistik. Im September 1948 wurden die beiden Institute zusammengelegt. Ihr erster Leiter war Hermann Budzislawski. 1952 erlebte Heinz Klunker den ehemaligen Weltbühnenautor zum ersten Mal. Budzislawski, der während des Krieges im Ausland war, las kapitalistische Presse. Er galt bei den Studenten als bunter Vogel. In den Literaturvorlesungen sprach Wieland Herzfelde, der Gründer des Malik-Verlags, nicht nur über Bücher, sondern vertraute seinen Hörern auch ein Stück eigener Biographie aus der Weimarer Zeit an. Diese Zwischentöne fielen am Leipziger Institut für Journalistik auf. Nach den Ereignissen zum 17. Juni 1953 kam es zu Relegationen. Bei einer Versammlung gab sich der parteilose Heinz Klunker zum ersten Mal unter den Studenten zu erkennen: Er stimmte vor allen Anwesenden gegen die Relegationen. Seit dieser Zeit trafen sich Studenten einzelner Seminargruppen, diskutierten über Politik, Kunst, Kultur, gaben sich den Namen "Die Demokraten" und besuchten gemeinsam die Vorlesungen von Hermann A. Korf, Hans Meyer und Ernst Bloch im Hörsaal 40. Klunker ging lieber zu den Vorlesungen als in die kurzfristig einberufenen FDJ-Versammlungen. Und weil das öfter vorkam, erhielt er eine FDJ-Strafe.
1954 gründete sich an der Leipziger Karl-Marx-Universität die Fakultät für Journalistik.
Genossen der Sozialistischen Einheitspartei sahen in der Einrichtung ein Zeichen für die "großen Entwicklungsperspektiven dieser Wissenschaft" auf marxistisch-leninistischer Grundlage. Für Heinz Klunker begann damals das zweite Jahr in Leipzig. In dieser Zeit spürte er die Auswirkungen der Zweiten Parteikonferenz der SED. Programmatisch sollten jetzt die Grundlagen des Sozialismus errichtet werden - der ideologische Klassenkampf zwischen DDR und BRD spitzte sich in den folgenden Jahren zu. Im Mai 1955 gab es im Hörsaal der Medizinischen Fakultät am Bayrischen Bahnhof in Leipzig eine Versammlung. Sie begann mit einer Kontrolle der FDJ- und Parteiausweise und sollte sich mit den Studenten auseinandersetzen, die nicht bereit waren, Verpflichtungserklärungen zu unterschreiben. Diese galten in der DDR als ein Ergebenheitsbeweis, später dorthin zu gehen, wo der Staat die jungen Absolventen braucht. Heinz Klunker verweigerte die Unterschrift. An diesem Tag hielt der Dichter Rainer Kunze, damals Assistent an der Fakultät, eine emotionale Rede. Sie gipfelte in dem Satz: "Dieser Klunker, schaut ihn euch an, er trägt die Uniform des Feindes." Klunker wollte zum Podium gehen, um mit Kunze öffentlich zu streiten, doch seine Freunde hielten ihn fest. Vier Stunden später war die Versammlung vorbei, Heinz Klunker ging mit seinen Freunden in den Ratskeller. Sie besprachen die Ereignisse, berieten die Konsequenzen und beschlossen, die Republik am folgenden Wochenende nach den Russisch-Prüfungen zu verlassen.
Sommer 1989.
Einige meiner Freunde, Bekannten flohen über Ungarn und Prag in die Bundesrepublik. In den Tagen vor ihrer getarnten Abreise saßen wir zusammen und redeten über uns, über das Weggehen und Ausharren und den Preis, den man fürs Hierbleiben zahlt. Der Spruch: "Nicht wissen wohin, ist kein Grund zu bleiben", schickt mir noch heute einen Schauer unter die Haut. Ich begann zu zweifeln. Was wird, wenn ich die vier Jahre in Leipzig nicht durchhalte? Wie wird mich diese Ausbildung verändern? Die ersten Wochen in Leip zig. Eigentlich begannen sie auf einer sozialistischen Apfelplantage. Körbeweise sollten wir mit "Weihnachtsapfel" und "Gelbem Köstlichen" den Vitaminhaushalt der Werktätigen im Winter sichern. Dann wurde es ernst. Im Internat wohnten acht Männer in einem Raum, dann vier, und irgendwann zog ich aus. Ohne Leipziger Wohnsitz durchstreifte ich den Osten der Stadt, ein riesiges Abrissareal, auf der Suche nach Kohlen, einem Stuhl, einem Schrank und einem Bett. Viele Wohnungstüren standen offen; in den Schränken schimmelte das Brot, nicht eingelöste Rezepte lagen herum; unbezahlte Energierechnungen - alles erzählte leise, von Hoffnungslosigkeit und Untergang. Wer hier nicht ging, trank.
An der Universität merkten sie von all dem nichts. Kommilitonen, die öfter als nötig im FDJ-Hemd erschienen, mied ich. Und überhaupt glich der Unterricht an der Sektion eher einer Schule als einem Studium. Anwesenheitskontrolle, fester Stundenplan, Unterricht bis spät in den Abend. Als die Genossen jeden Montag zur Parteiversammlung gerufen wurden, lernte ich Französisch. Ein Fach auf meinem Stundenplan hieß "APA". Hinter den drei Buchstaben stand Herr Wittenbecher, ein alter hagerer Mann. Er sollte uns das Aktuell-Politische-Argumentieren beibringen. Sein Gesicht sah aus wie geschnitzt, seine Anschauungen waren aus Stein, an dem erste Studenten zerbrachen. Er verbot uns den Besuch der Montagsdemonstration und riet, nicht in die Nikolaikirche zu gehen, drohte sogar mit Rausschmiss. Ich wurde immer neugieriger. In der Dunkelheit eines Abends ging ich irgendwann dorthin, wollte mir selbst ein Bild machen und lief aus Feigheit und Angst auf dem Bürgersteig nebenher oder schaute vom "Blauen Wunder" - einer Brücke in der Nähe des Hauptbahnhofs - auf den Zug der Demonstranten. Mein Studium bei Herrn Wittenbecher dauerte insgesamt sechs Stunden. In der einen Woche argumentierte er gegen die Botschaftsflüchtlinge in Prag, beschimpfte sie als asoziale Elemente. Als am 4. Oktober die Polizei auf dem Dresdner Hauptbahnhof prügelte, sollten wir mit ihm über die Gewalt in Israel sprechen. Die letzten Stunden bei Herrn Wittenbecher ähnelten einem Boxkampf in der zehnten Runde, der Mann war angeschlagen, Hieb auf Hieb landeten die Treffer, 9. Oktober - Montagsdemonstration in Leipzig, 18. Oktober - Honecker tritt zurück, 4. November - Großdemonstration in Berlin, 9. November ... und da plautzt eine Gerade auf die Kinnspitze, die Mauer fällt, und an der Universität kollabierte der Unterricht - k.o. Nach einer außerordentlichen Versammlung wurden wir alle nach Hause geschickt. Die Professoren wollten unter sich sein. Und wie ein großer Radiergummi löschte diese Versammlung die Fächer in meinem Stundenplan aus. Seitdem habe ich viele Dozenten nie wieder gesehen. Sie verschwanden ebenso wie einige Studenten, die schnell und ohne Zögern ihre Sachen packten. Alles sah nach einem großen Irrtum aus. Und die Gebliebenen? Die sollten auf Anraten der Dozenten in Krankenhäusern arbeiten oder eine Umschulung zum Straßenbahnfahrer über sich ergehen lassen. Zusammen mit meinem Freund Gehrmann gründeten wir stattdessen ein Medien-Büro und schrieben Reportagen für Zeitungen und Agenturen.
Im März 1990 begann das Studium von neuem.
Doch in den Hörsälen blieben immer mehr Stühle leer. Eine Neuorientierung war notwendig. Ein Studentenrat wurde gewählt, Schreibwerkstätten gegründet. Vorsichtig wehte eine frische Brise die Schläfrigkeit der Vorlesungen aus den Hörsälen. Es dauerte etwas länger als ein halbes Jahr. Dann sollte auf Beschluss des sächsischen Kultusministeriums die Sektion für immer geschlossen werden. Die Studenten drohten mit Streik. Sie selbst wollten einen Neuanfang und besetzten über die Weihnachtsfeiertage die Universität. Der Kultusminister gab nach zähen Verhandlungen nach und berief im Februar 1991 Prof. Dr. Karl-Friedrich Reimers zum Gründungsdekan für das Institut für Kommunikation und Medienwissenschaften. Die Lehre ging weiter. Es dauerte noch zwei Jahre, dann war der Übergang geschafft, die Sektion - evaluiert. Für uns Studenten eine schwierige Zeit, plötzlich organisierte sich jeder selbst, abgerechnet wurde nur noch in Scheinen, und hinter jedem Schein stand ein erfolgreich abgeschlossenes Seminar; nicht nur in der Journalistik, sondern auch in einem Zweitfach. Viele Dozenten kamen aus den alten Bundesländern und vermittelten nun konzentriert in Blockseminaren ihr Wissen. Sie flogen aus Hamburg, München, Frankfurt am Main in die Messestadt. Wir nannten sie einfach Lufthansa-Professoren, und wenn sie sich ankündigten, dann bedeutete das für uns: Sonnabend und Sonntag früh aufstehen und Universität: Übungen vor dem Mikrophon, Livereportagen, Methodik, Stilistik. In dieser Zeit lernte ich in einer Vorlesung Heinz Klunker kennen. Er kam aus Köln und berichtete über seine Arbeit als Leiter der Featureabteilung des Deutschlandfunks. Das ist jetzt fünf Jahre her. Inzwischen werden in Leipzig Kommunikation und Medienwissenschaften als Magisterstudium sowie Diplom-Journalistik als Haupt- oder Nebenfach angeboten. Heute erinnert nichts mehr an das einstige von Brigitte Klump beschriebene "Rote Kloster" der DDR. Wir waren damals in meinem Studienjahr 120 junge Männer und Frauen, nur 53 haben ihr Studium beendet.
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