Mehr als einen Blick riskieren

ÜBERGANG - WELCHER ÜBERGANG? Der New Yorker Historiker Stephen F. Cohen verwirft das westliche Russland-Bild der neunziger Jahre

Erinnert sich noch jemand an Jeffrey Sachs? Professor Sachs, Harvard-Ökonom? Er wurde Anfang der neunziger Jahre berühmt, als er osteuropäische Regierungen in Sachen Übergang zur Marktwirtschaft beriet und Schocktherapien empfahl: Preisfreigabe, Privatisierung, freier Markt. Und zwar sofort. Mitte der Neunziger befand sich Russlands Ökonomie auch dank Mister Sachs längst im freien Fall. Ende der Neunziger galten selbst nach russischen Standards zwei Drittel der Bevölkerung als arm, die Lebenserwartung war unter 60 Jahre gefallen - seitdem hört man weniger von Sachs.

Wer beim Sprung hin zu einem westlichen Gesellschaftstypus zum Überflieger ausersehen war, stand nie in Zweifel: Da war der Bär Jelzin, der so tapfer auf einen Panzer geklettert war, als kommunistische Hardliner im August 1991 das Rad der Geschichte zurückdrehen wollten. Und da waren seine Zöglinge Tschubais, Gaidar und Kirijenko - oft als "Demokraten" oder "junge Reformer", manchmal auch als "Technokraten" etikettiert. Obwohl "Technokraten mit radikalen Reformprojekten" in keinem westlichen Land auch nur fünf Minuten an die Schalthebel der Macht gelassen würden, hält man dort zum Teil bis heute die Tschubais Co. für eine Idealbesetzung, um Russland wieder in Schwung zu bringen.

Ende 2000 erschien in den USA das Buch Failed Crusade: America and the Tragedy of Post-Communist Russia, das den katastrophalen Irrsinn dieses Russlandbildes, seine Hintergründe und Erfinder beschreibt. Autor ist der Historiker Stephen F. Cohen. Der in New York an der Columbia Universität lehrende Russlandkenner weist minutiös nach, wie nahezu die gesamte US-Presse, die akademische Welt und die Politik zehn Jahre lang ein absichtlich oder fahrlässig falsches Bild der russischen Verhältnisse gezeichnet und gegen alle Vernunft und Realität aufrechterhalten haben. Die Menge der von Cohen angeführten Belege ist ebenso bestürzend wie der Impetus von Wissenschaftlern oder Kolumnisten, der von missionarisch-imperial über ignorant-unredlich bis zu dummdreist-impertinent reicht - und sich wohl gemerkt nicht in irgendwelchen Provinzblättern entlädt, sondern in durchweg angesehenen Publikationen wie der New York Times, der Washington Post, der LA Times oder dem Wall Street Journal.

Neben dieser "Materialsammlung" fasst das Buch im zweiten Teil Aufsätze zusammen, die Cohen seit 1991 zumeist in der Zeitschrift The Nation veröffentlicht hat. Sie gehören zum klarsten und durchdachtesten, was über die laufenden "Reformen" Russlands geschrieben wurde. Teil drei schließlich analysiert Clintons Russlandpolitik, die Amerika in das "größte außenpolitische Desaster seit Vietnam" geführt habe und nach Auffassung Cohens nur korrigiert werden könne, wenn zunächst einmal der Russischen Föderation nicht länger das westliche Gesellschaftsmodell aufgezwungen werde. Schon gar nicht mittels "radikaler Reformen", für die ein Zeitraum von zehn Jahren "als ausreichend" betrachtet wurde.

Mit Failed Crusade liegt ein dringend benötigtes Buch vor, auch wenn Cohen den zweifellos erheblichen Einfluss der US-Regierung und des IWF auf die Politik Moskaus wohl etwas überschätzt. Die zwischen beleidigter Verweigerung und überheblicher Ignoranz schwankende Reaktion auf die Veröffentlichung lässt indes wenig Gutes ahnen. Immerhin scheinen seit dem Finanzkollaps vom Spätsommer 1998 einige Osteuropa-Beobachter einen realistischeren Blick auf Russland und seine jüngere Vergangenheit zu riskieren. Doch der Mythos "Transformationsgesellschaft" scheint noch immer unantastbar. Entsprechend beurteilen die meisten westlichen Kommentatoren Wladimir Putins Politik absurder Weise ausschließlich hinsichtlich ihres Effekte für oder gegen Demokratisierung und marktwirtschaftliche Entwicklung. Andererseits bezweifeln heute nur noch die ignorantesten Free-Market-Stalinisten, dass es sich bei der jahrelang gefeierten "russischen Privatisierung" in Wirklichkeit um einen der weitreichendsten, erfolgreichsten Raubzüge zur Enteignung eines Volkes im 20. Jahrhundert gehandelt hat.

Stephen F. Cohen: Failed Crusade: America and the Tragedy of Post-Communist Russia, W.W.Norton, New York und London 2000.

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