Das Recht auf Selbstbestimmung

Biografie Susanne Miller erzählt aus ihrem Leben und von einer untergegangenen Sozialdemokratie

Erlebte Geschichten heißt eine traditionsreiche Sendereihe auf WDR 5, in der alte Menschen, prominente und unbekannte, unkommentiert aus ihrem Leben erzählen, eine knappe halbe Stunde behutsam bearbeiteter Originalton. Dieses Format funktioniert erstaunlicherweise auch gedruckt, denn genau so hat Antje Dertinger, als Autorin von Biografien vergessener Widerstandskämpferinnen ausgewiesen, die Erinnerungen der im Mai 90 Jahre alt gewordenen Susanne Miller behandelt: Von November 2003 bis Juni 2004 hat sie die erblindete, geistig hellwache Historikerin etwa zwanzigmal in ihrer Bonner Wohnung besucht und über 1.500 Minuten Geschichten aus ihrem Leben aufgezeichnet.

Der Originalton als gedrucktes Wort funktioniert hier deshalb, weil mit Susanne Miller, der in einem großbürgerlichen Wiener Haushalt aufgewachsenen evangelisch getauften Jüdin, Exilantin in London und Widerstandsarbeiterin, einer spät promovierten Historikerin und hartnäckigen Sozialdemokratin, eine ungewöhnliche Persönlichkeit auf eine höchst eigenwillige Art erzählt. Ihr Erzählduktus, von Dertinger nur sehr fein redigiert, aber unter orientierenden Überschriften in ganz kurze Kapitel geordnet, vermittelt sich lebendig und anschaulich, manchmal sprunghaft, vorausgreifend und zurückschauend, aber nie abschweifend. Miller ist keine blumige, noch nicht einmal eine ausschmückende Erzählerin. Sie berichtet gemäßigt anekdotisch, häufig analysierend und ohne uns Einblicke in ihr Gefühlsleben zu gestatten, die sie vermutlich indiskret fände: "Später sind etliche meiner Verwandten umgebracht worden" heißt es beispielsweise ebenso lapidar wie jede Nachfrage ausschließend.

Einerseits hält sie sich den neugierigen Leser dadurch vom Leibe, andererseits beeindruckt sie mit diesen fast kargen Schilderungen umso mehr. Dass sie den englischen Namen Miller einer sogenannten Schutzehe verdankt, die ihr im Krieg die britische Staatsbürgerschaft bescherte und das Internierungslager für deutsche Flüchtlinge ersparte, erfahren wir zwar als Faktum. Von dieser heute verpönten Methode, Asylbewerber vor der Abschiebung zu retten, berichtet sie aber so knapp, dass man deren Gewicht erst recht ahnt.

In ihrer Einleitung schreibt Dertinger: "Dass sie mir gegenüber vor etlichen Jahren im Zusammenhang mit Recherchen zum Thema Schutzehen relativ ausführlich davon gesprochen hat, verargt sie sich und mir bis heute ..." Dertinger nennt Miller eine "Informationserzählerin". In der Flut persönlicher Erinnerungsliteratur ist das eine klare, unsentimentale Stimme, die uns Selbstanalysen gänzlich erspart. Nicht aber schlichte Bekenntnisse, die vielleicht erklären, warum jemand eine starke Persönlichkeit wird und bleibt. Als Kind, sagt die mit Gouvernanten und Dienstboten mutterlos aufgewachsene Miller, "war es mir schon ein furchtbarer Gedanke, andere könnten über mich bestimmen, meinen Alltag regeln und mit mir machen, was sie wollen, ohne zu fragen, ob mir das auch recht sei". So ein Mensch ist nicht wehleidig, der schlägt sich mit 17 Jahren als Küchenmädchen in einem Londoner Restaurant durch und engagiert sich beim "Internationalen Sozialistischen Kampfbund" wie etliche Emigranten, die später als Sozialdemokraten in der jungen Bundesrepublik wirkten.

Susanne Miller, verheiratete und verwitwete Eichler und geborene Strasser hat fast ein Jahrhundert deutscher Geschichte miterlebt und als von den Nazis Vertriebene und gegen sie Kämpfende, auch erlitten. Gleichzeitig hat sie, Mitglied der SPD seit 1946, diese Geschichte professionell analysiert: Ihre Kleine Geschichte der SPD war ein Standardwerk. Und von Köln aus hat sie diese Geschichte als Frau des SPD-Politikers Willi Eichler, zeitweilige Mitarbeiterin im Bonner SPD-Parteivorstand oder Vorsitzende der "Historischen Kommission", am Rande mit gestaltet.

Miller erinnert an viele aufrechte, mutige Menschen, deren Namen niemand mehr kennt, wie Heinz Putzrath oder Ludwig Gehm und spricht von einer Sozialdemokratie, die es nicht mehr gibt. Einige der Verfolgten und Emigrierten fanden sich in der "Arbeitsgemeinschaft verfolgter Sozialdemokraten" zusammen, deren Vorsitzende Susanne Miller einige Jahre war. Sie äußert sich nicht zu aktuellen politischen Fragen, aber die eindrückliche Form, in der sie über Exil, Flucht und Verfolgung spricht, kann man nicht lesen, ohne an die Asylpolitik des derzeitigen Innenministers zu denken.

So würde ich noch einmal leben. Erinnerungen von Susanne Miller. Aufgezeichnet und eingeleitet von Antje Dertinger, Dietz, Bonn 2005, 216 S., 14,80 EUR


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