Ganz sicher wird der Balkon eines Tages auseinanderbrechen und heruntersausen. Mit Getöse. Mit Krach. Mit Betonbrocken, mit Staub und Geröll. Mit ihm und seinem Stuhl.
Der Riss ist sein Geheimnis. Sie stellen den Stuhl immer exakt auf den Riss, nie einen Zentimeter daneben oder davor oder dahinter, darauf kann er sich verlassen, weil sie nie etwas ändern. In diesem Falle ist das gut. So hat niemand außer ihm den Riss je gesehen. Denn außer zu der Zeit, in der er auf seinem Stuhl dort über dem Riss sitzt, ist nie jemand auf dem Balkon, der eventuell den Riss auch würde wahrnehmen können. Er ist froh, dass er sich in dieser Beziehung auf sie verlassen kann. Er würde es nicht ertragen, wenn sie den Stuhl so hinstellen würden, dass auch die anderen den Riss sehen könnten und ihm womöglich sein Geheimnis entrissen. Aber tatsächlich macht er sich keine Sorgen, dass sie den Stuhl jemals anders hinstellen, denn es ist unvorstellbar, dass sie plötzlich etwas anders machten als die Jahre zuvor. Dreimal täglich.
Schon möglich, dass sie es sogar unbewusst gesteuert tun, von ihm gesteuert, durch unbewusst ausgesandte Schwingungen. Aber er will sich nichts vormachen, er hat keinen Einfluss auf irgend etwas, schon gar nicht auf die exakte Platzierung des Stuhles über dem Riss auf dem Balkonboden.
Von unten hat er den Balkon niemals gesehen. Sie lassen ihn nicht hinunter gehen. Niemanden lassen sie hinuntergehen, denn dann müssten sie mitgehen, aufpassen, hinschauen, alles, was sie nicht müssen, wenn er auf den Balkon gesetzt wird. Er weiß also nicht, ob der Riss sich auch von unten täglich verbreitert. Er weiß auch nicht, ob gelegentlich jemand, der unten vorbeigeht, hinauf sieht, unter den Balkon sieht und denkt, dort ist ein ziemlich breiter Riss in diesem Balkonboden, vielleicht kommt der Balkon eines Tages hinunter gesegelt, gerade dann, wenn ich dort vorbeigehe, vielleicht gehe ich lieber nicht mehr dort vorbei, oder ich sage vielleicht der Leitung Bescheid, dass dort am Heim ein Riss im Balkonboden klafft, der jeden Tag größer wird, jedenfalls kommt es mir so vor, entschuldigen Sie, ich will mich nicht aufdrängen oder Gefahren an die Wand malen, die in Wirklichkeit keine sind, sondern nur mir so vorkommen, weil ich jeden Tag unter diesem Balkon vorbeikomme, wobei ich nicht einmal weiß, ob auf diesem Balkon jemand sitzt, das kann man von unten nicht sehen und vielleicht haben Sie das Sitzen auf dem Balkon längst untersagt, weil der Riss gefährlich ist, und ich mache mir ganz unnötig Sorgen, beziehungsweise mache ich Sie auf etwas aufmerksam, was Sie längst wissen und berücksichtigen, und deshalb sowieso niemanden auf den Balkon lassen, vielleicht ist dort schon ein Schild aufgestellt in der Art, dass das Betreten des Balkons und das Sitzen auf demselben mit Gefahren verbunden ist, und ich bin nur lästig, indem ich jetzt auch noch damit komme, vielleicht sind schon sehr viele vor mir bei Ihnen vorstellig geworden, um Ihnen mitzuteilen, dass dort unten in ihrem Balkonboden ein Riss klafft und Sie kommen gar nicht mehr zu Ihren normalen Verrichtungen, weil ständig jemand von der Straße hereinkommt, der unter diesem Balkon entlang geht und zufällig hinauf schaut, normalerweise schaut man ja auf die Straße und achtet darauf, nicht hinzufallen oder irgendwo hineinzutreten, aber manchmal schaut man eben in Gedanken doch hinauf und so habe ich den Eindruck gewonnen, dass der Riss sich ständig verbreitert, aber das kann auch täuschen. So oder so ähnlich würde jemand vielleicht denken, der unten vorbeigeht, aber er kann es nicht sehen, denn der Blick, den sie ihm gönnen, wenn sie ihn dreimal täglich auf den Balkon setzen, geht über das Geländer hinweg in die Weite, die keinen Halt hat und keinen Weg, und sie kämen nie auf die Idee, den Stuhl so nahe an das Geländer zu stellen, dass er hinunter blicken könnte, ohnehin ja nur hinunter auf die Straße und dann vielleicht auf Menschen, die schon einmal hinauf gesehen haben.
Dreimal täglich wird der Riss ein wenig breiter. Er hat seine Breite vor vielen Jahren festgestellt und sich gemerkt. Er weiß genau, um wieviel Millimeter sie dreimal täglich breiter wird. Immerhin, es tut sich etwas. Er muss rechnen, berechnen, wie lange es noch dauern kann.
Er war so froh gewesen, den Riss zu entdecken. Er freut sich auf das Abbrechen, das anfänglich nur sehr leise Knarzen, ein Knispern und Knarzen, das niemand außer ihm hören würde, das lauter werdende Knirschen, das Bersten, das Krachen, das Loch, das sich bilden würde, durch das er mit seinem Stuhl hinuntersausen würde, gemeinsam mit Betonbrocken und Staub, schließlich unten in einer riesigen Betonwolkenwolke landen würde, mit dem zerbrochenen Stuhl, er selber in Einzelteilen wie der Balkon. Er sieht, wie sein sicherlich nur noch schwach rotes Blut, seine sicherlich nur noch schwach beigen, splitterigen Knochen, seine sicherlich nur noch gräulichen, mageren Fleischfetzen sich mit dem Betonstaub und dem Geröll vermischen würden. Er freut sich jeden Tag ein bisschen mehr, wenn er den breiter werdenden Riss neu berechnet, dreimal täglich wächst seine Freude.
Einmal, kurz nach der Entdeckung des Risses, hatte er überlegt, ob er etwas über den Riss erzählen sollte. Aber er hätte brüllen müssen, der Abstand der Stühle ist für die schwerhörigen Ohren der anderen zu groß, als dass er das Geheimnis hätte weiter flüstern können. Und wenn er gebrüllt hätte, hätten die es gemerkt, wären herausgestürzt, hätten ihn und seinen Stuhl verschoben, gewiss verschoben, vielleicht beschlossen, ihn nur noch zweimal täglich herauszustellen oder gar nicht mehr.
Deshalb hat er das Wissen um die bevorstehende Sensation für sich behalten. Und auch deshalb, weil sie sich wundern sollen, nachher, staunen, erschrecken sollen. So viel Krach und Unordnung ist nie gewesen. Er wäre schuld, und sie könnten ihn diese Schuld nicht mehr spüren lassen, keine Änderung des dreimal Täglichen mehr einführen, denn die staubbedeckten Fleischfetzen, die zerborstenen Knochen, das in den Gesteinsbrocken versickerte Blut wäre immun gegen ihre Schuldzuweisungen, ihre Wut und ihre Strafmaßnahmen. Vielmehr hätten sie zusätzliche Arbeit, müssten aufräumen, auffegen, das, was von ihm übrig wäre, von dem Balkon übrig wäre, sie müssten sich womöglich rechtfertigen vor der Leitung. Nein, würden sie sagen, nie haben wir die Risse bemerkt, hätten wir sie bemerkt, hätten wir für Abhilfe gesorgt, denn niemals hätten wir zugelassen, dass ein solches Getöse, ein solcher Krach, ein solcher Dreck, ein solcher Staub entstanden wäre. Wo, würden sie fragen, sollen wir die Alten dreimal täglich hinsetzen, wenn wir die Zimmer machen, wohin sollen wir sie stapeln, wenn nicht auf den Balkonen. Und wie, würden sie sagen, sollen wir jetzt, wo es keinen Balkon mehr gibt, die Alten aufbewahren, dreimal täglich, wenn sie im Wege sind, ohne Balkon, bitte sehr? Also hätten wir selbstverständlich beim ersten sichtbaren Riss gehandelt, um das dreimal tägliche Herausstellen weiterhin und auf alle Zeit zu gewährleisten. Vielleicht würden sie einen neuen Balkon bekommen, aber das würden sie ablehnen, denn einen Balkon zu bauen dauert Monate, macht Lärm und Dreck und bringt Unruhe und Aufregung, ständig würden sie, die Alten, danach schauen, wie weit sich der Balkon schon entwickelt hätte, sie würden mit den Bauarbeitern versuchen, Kontakt aufzunehmen, brüllen, weil sie doch nichts mehr hören, und höfliche Bauarbeiter würden zurück brüllen in dem ganzen Lärm der Bohrer. Es wäre ein infernalischer Lärm, ein brüllender Orkan aus Bohrern und Hämmern und alten Stimmen und höflichen Bauarbeiterstimmen. Also würde sich die Leitung diesen Argumenten beugen, ohnehin war es nur eine Idee gewesen, eine naheliegende, aber unüberlegte und überhastet vorgetragene Idee, und es würde keinen neuen Balkon geben, der dann, auch das wäre zu bedenken, in einigen Jahren womöglich neue Risse haben würde, die sich ständig verbreitern würden und niemand habe Zeit, auf entstehende Risse zu achten, es sei unmöglich, zusätzlich zu allem anderen auch noch Risse in Balkonen zu beobachten. Das Herausstellen gewiss sei nun nicht mehr möglich, aber man habe bereits über eine Lösung nachgedacht und sehe die Möglichkeit, das dreimal tägliche aus dem Wege Räumen in den Keller zu verlegen, was durch die Aufzüge durchaus technisch bewältigbar sei. Dort ließe sich das eine oder andere Fenster öffnen und ein Lüftchen hereinlassen, das für das bekanntermaßen nur noch schwach vorhandene Bedürfnis nach frischer Luft durchaus ausreichend sei. Die Leitung wäre für diese Lösung sehr aufgeschlossen, schließlich sei unerheblich, durch welche Öffnung frische Luft in die ohnehin nur noch wenig aufnahmefähigen Lungen kommt.
Sie würden also, da war er sicher, keinen neuen Balkon bauen, vielmehr wären sie froh, den alten los zu sein.
So rückt sein großer Tag näher, gerade heute, beim zweiten Hinausstellen, hat er ein ganz feines, hauchzartes Anzeichen von Knirschen vernommen, mehr geahnt als gehört, aber eindeutig identifiziert. Es kann nicht mehr lange dauern. Er hat gelächelt, es aber dann schnell wieder eingestellt. Schließlich soll ihm nicht zu guter Letzt der Spaß verdorben werden, wenn sie dieses ungewohnte Lächeln womöglich sehen und anfangen, es zu deuten.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.