Als ich Fritz Heine im Sommer 2000, knapp zwei Jahre vor seinem Tode, wegen eines Interviews in seinem Haus in Bad Münstereifel besuchte, erzählte der damals 96-jährige Sozialdemokrat mit minutiöser Erinnerung, aber bescheiden und sachlich davon, wie er während des Zweiten Weltkrieges Hunderten von verfolgten Sozialdemokraten und Juden das Leben rettete, unter welch abenteuerlichen Umständen er ihnen falsche Papiere und Fahrkarten besorgte oder sie über Grenzen schmuggelte, mitunter persönlich im Huckepack.
Fritz Heine wurde 1904 in eine sozialdemokratische Familie hineingeboren. Vater Heine, ein Orgelbauer, war im Arbeitersportbund aktiv. Sohn Fritz wurde 1925 von der heimatlichen SPD aufgefordert, für sechs Monate als Volontär zum SPD-Parteivorstand nach Berlin zu gehen: Zunächst als Sekretär für den Schatzmeister, dann schon bald als Leiter der Werbeabteilung. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde die Partei verboten, bei der Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz im März 1933 waren viele Mitglieder schon verhaftet. Der junge Parteiangestellte Fritz Heine wurde ausersehen, die wichtigsten Vorstandsmitglieder ins Prager Exil zu bringen, darunter Hans Vogel und Friedrich Stampfer und der SPD-Vorsitzende der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, Erich Ollenhauer. Bis 1938 hielt Heine den Informationsweg zwischen Deutschland und dem Exilvorstand in Prag mit illegalen Fahrten in die Heimat und Kurierdiensten aufrecht. 1938 ging der Exilvorstand der SPD nach Paris und Fritz Heine, der Jüngste, der englisch und französisch sprach und keine Familie hatte, bekam 1940 den Auftrag, gefährdete Menschen in den noch nicht von den Deutschen besetzten Süden Frankreichs und von da aus möglichst auch aus Europa heraus zu bringen.
Heine arbeitete von Marseille aus: Die Dachkammer eines Hotels war gleichzeitig seine illegale Wohnung und sein Anlauf- und Beratungsbüro für "Ausreisewillige". Er trieb bei verschiedenen Hilfsorganisationen unermüdlich Geld auf, beispielsweise beim Emergency Rescue Commitee des Varian Fry, den Anna Seghers in Transit so eindrucksvoll würdigte, etwas, was Heine selbst in seiner eigenen Partei zeitlebens nur unzureichend widerfuhr. Er besorgte oft erfolgreich Papiere, mit denen sich die Verfolgten nach Übersee durchschlagen konnten. Es fiel Heine aber lebenslang schwer, über jene beiden prominenten Sozialdemokraten zu sprechen, die, im Vertrauen darauf, dass sie wegen ihres internationalen Ansehens aus ihrem französischen Exil nicht an die Nazis ausgeliefert würden, eine durchaus mögliche Rettung durch ihn verweigerten: Die beiden ehemaligen Minister und Reichstagsabgeordneten Rudolf Breitscheid und Rudolf Hilferding. Breitscheid kam 1944 im KZ Buchenwald ums Leben, Hilferding starb 1941 in einem Pariser Gefängnis.
Die tragischen Umstände dieser misslungenen Rettung sind ebenso wie Heines eigene Schilderungen seiner illegalen Arbeit in Stefan Appelius´ Buch Der Teufel hole Hitler ausführlich dokumentiert. Der Oldenburger Historiker und Heine-Biograf hat in europäischen und amerikanischen Archiven den Briefwechsel Fritz Heines mit den verfolgten Sozialdemokraten, mit dem Exilparteivorstand und zahlreichen Hilfsorganisationen zusammengetragen und nun erstmals veröffentlicht. Appelius hat diese 174 Briefe zwischen die Schilderung von Heines Kindheit und Jugend in Hannover und sein Leben nach 1945 eingebettet. Die Korrespondenz zwischen den einstmals prominenten, heute nahezu vergessenen Politikern wie Erich Ollenhauer, Hans Vogel, Herbert Weichmann oder Wilhelm Hoegner und Heine zeugen von den ungeheuren Schwierigkeiten, mit denen Heines Rettungsaktionen verbunden waren, sie drehen sich immer wieder um Visafragen, um Geld, um - noch - sichere Ausreisewege und vor allem um die Angst vor Verhaftung und Ermordung beim Herannahen der deutschen Truppen. Sie sprechen vom Elend des Migrantendaseins, dem Verlorensein und der Einsamkeit in der Fremde, der materiellen Not, den unmenschlichen Zuständen in den südfranzösischen Internierungslagern. Es geht ums nackte Überleben, nur äußerst selten um politische Strategien für Friedenszeiten oder um programmatische Fragen.
"Wir haben in diesen Tagen den sechsten zu Grabe getragen, der sich das Leben genommen hat, weil die Aussichtslosigkeit und die Mittellosigkeit ihm keine Kräfte mehr ließ", schreibt Heine im Dezember 1940 aus Marseille in einem Brief, in dem er mal wieder um finanzielle Unterstützung bittet. "Die tägliche Todesziffer in Gurs liegt jetzt an die 30. In Gurs ist keine Heizung, gibt es nur dürftige Wassersuppe, völlig unzureichend, um leben zu können. Ein Teil unserer Freunde sitzt in den Lagern. Ich bekomme von ihnen verzweifelte Briefe, ich bekomme entsetzliche mündliche Schilderungen und ich stehe hier an Händen und Füssen gebunden, ohne ihnen wirksam helfen zu können."
Vor der Gestapo rettete Fritz Heine sich im März 1941 nach London. Nach dem Kriege ehrte Israel ihn als "Gerechten der Völker", seine Heimatstadt Hannover machte ihn kurz vor seinem Tode zum Ehrenbürger. In seiner Partei, der er nach dem Kriege unter anderem als Vorwärts-Chefredakteur diente, galt er nur wenigen als Held, vielmehr wurde ihm das Scheitern der parteieigenen Presse angelastet und seine Rettungstaten gerieten in Vergessenheit.
Dieses Buch ist nicht nur eine eindrucksvolle Dokumentation zur Emigration aus Nazideutschland allgemein und speziell der sozialdemokratischen, sondern auch der Versuch, das Gedenken an einen Menschen zu bewahren, der unter Einsatz seines Lebens widerständig war, ohne in seinem späteren Leben viel davon zu sprechen.
Stefan Appelius (Hg.): Der Teufel hole Hitler/Briefe der sozialdemokratischen Emigration. Klartext, Essen 2003, 406 S., 21,90 EUR
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