Im Bundeskabinett sitzen sechs Ministerinnen, so viele Frauen wie nie seit Bestehen der Bundesrepublik. Man hört momentan nicht viel von ihnen. Denn derzeit geht es um wichtige Dinge: Finanzen, Wirtschaft, Außenpolitik. Das sind die "wirklichen, politischen Sachen und die sind fest in den Händen der Herren der Schöpfung". Das hat Alma Kettig vor über 50 Jahren festgestellt und sie wäre vermutlich nicht überrascht, dass sich nicht viel geändert hat. Denn Alma Kettig gehörte zu jenen Politikerinnen, die ab 1949 als eine von wenigen Frauen im ersten Bundestag saßen und deren Arbeit ebenso vergessen ist wie ihre Namen und ihre Lebensläufe. Niemand hat sich bislang mit dem Wirken und dem Leben solcher Abgeordneter wie Liesel Kipp-Kaule, Lisa Albrecht, Luise Herklotz, Irma Keilhack oder eben Alma Kettig beschäftigt - selbst an Käte Strobel, Deutschlands erste Gesundheitsministerin und zu ihrer Zeit beliebteste Politikerin überhaupt, wird nirgendwo erinnert.
Dass die "Väter des Grundgesetzes" vier "Mütter" an ihrer Seite hatten, entdeckten Feministinnen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, weshalb man zumindest weiß, dass der Grundgesetzartikel 3, "Männer und Frauen sind gleichberechtigt", das Verdienst der Juristin Elisabeth Selbert ist. Deren sozialdemokratische Mitstreiterin im Parlamentarischen Rat aber war Frieda Nadig, und die ist nur einer Handvoll feministischer Historikerinnen bekannt, obwohl sie schon vor 1933 politisch aktiv und 22 Jahre lang MdB war. Die Bonner Historikerin Gisela Notz ist nun im Rahmen eines Forschungsprojektes der Friedrich-Ebert-Stiftung den verwehten Spuren aller SPD-Parlamentarierinnen der ersten und zweiten Legislaturperiode des Bundestages nachgegangen, den Biografien jener Frauen, die den sogenannten "Wiederaufbau" entscheidend mit geprägt haben.
Dem Parlamentarischen Rat, der die Verfassung der Bundesrepublik ausarbeitete, widmet Notz ein eigenes Kapitel, in dem sie den enervierenden Kampf von Selbert und Nadig für die Grundgesetzartikel 3 spannend schildert. Die Beschränkung auf Sozialdemokratinnen begründet die Autorin damit, dass sich die SPD als erste Partei für die Gleichberechtigung der Frauen einsetzte und im Vergleich zu anderen Parteien Frauen auch eher an der politischen Arbeit beteiligte. Sie schränkt freilich ein, "dass nicht behauptet werden kann, dass in der SPD Frauen jemals ebenbürtig am politischen Geschäft beteiligt gewesen wären".
Notz hat den Parlamentarierinnen mit 26 geradezu detektivisch recherchierten Porträts ein spätes Denkmal gesetzt. Die Quellenlage ist äußerst dürftig: Bis auf ganz wenige wie etwa Annemarie Renger, die noch lebende erste Präsidentin des Deutschen Bundestages oder Louise Schröder, die erste Regierende Bürgermeisterin im Nachkriegs-Berlin, haben die Frauen weder Autobiographien geschrieben, noch haben sie geordnete Nachlässe hinterlassen. Ihre parlamentarische Arbeit, ihr politisches Engagement in der Weimarer Republik und ihr ehrenamtliches Engagement außerhalb des Parlaments ist kaum dokumentiert. Auch ihre Partei macht beim Vergessen keine Ausnahme. Selbst einschlägige Nachschlagewerke verschweigen mitunter weibliche Parlamentsangehörige völlig.
Die Politikerinnen selber nahmen sich möglicherweise nicht so wichtig wie männliche Politiker es tun und hielten es nicht für notwendig, ihre Redemanuskripte und ähnliches für die Nachwelt zu sammeln. In den Nachrufen, die die Partei ihren Genossinnen, beileibe nicht allen, widmeten, wird bezeichnenderweise stets betont, wie "bescheiden", welch "guter Kamerad" sie gewesen seien, hervorgehoben werden ihre "stillen Werke tätiger Nächstenliebe". Tatsächlich waren viele von ihnen wohl so: Sie arbeiteten unermüdlich, sie halfen vielen Menschen und machten nicht viel von sich her. Ihre Lebensläufe spiegeln Frauenleben im 20. Jahrhundert exemplarisch: Fast alle mußten sich ihre Schul- und Berufsausbildung erkämpfen, sie wurden durch die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, durch Krieg und Faschismus geprägt. Viele waren bereits Abgeordnete im Reichstag oder in kommunalen Räten und Landesparlamenten gewesen. Etliche leisteten im Faschismus Widerstand, wurden verfolgt, verhaftet, emigrierten oder brachten notdürftig ihre Kinder durch, weil ihre Ehemänner im KZ saßen. Irma Keilhack, zwanzig Jahre im Bundestag, hatte Verfolgung und Verhaftung erlebt, Maria Ansorge, Reichstagsabgeordnete, hatte im KZ Ravensbrück gelitten, Lisa Albrecht oder Gertrud Lockmann beteiligten sich an illegalen Aktionen, Franziska Bennemann emigrierte als Mitglied des ISK.
Alle fühlten sich mit dem Tag der Kapitulation zu erneutem politischem Engagement berufen - und fast alle betonten, dass sie keine "Feministinnen" seien. Sie wussten, dass ihnen ein solches Bekenntnis in der politischen Männerwelt schaden würde, und einige gaben das später sogar zu. Ihre Arbeit und, soweit überliefert, ihre Ansichten sind von Widersprüchen geprägt, die Notz nicht verschweigt: Sie erkannten fast alle die Realität der Frauendiskriminierung, setzten sich für mehr Kindergärten, für gleichen Lohn, für gute Ausbildungen ein, blieben aber, wie die meisten ihrer Nachfolgerinnen, im Zweifel solidarisch mit der Mehrheit ihrer Genossen, wenn "wichtigere Dinge" anstanden und steckten zurück. Dabei wirkten längst nicht alle mit guten Werken im Verborgenen, sondern waren im Widerspruch zu ihrer propagierten Angepasstheit mutig und ihrer Zeit voraus: Elinor Hubert, 1949 die einzige sozialdemokratische Akademikerin im Bundestag und "der (!) Arzt- und Gesundheitsexperte der SPD", warnte Anfang der 50er Jahre vor krankmachenden Arbeitsbedingungen durch zunehmende Technisierung, Clara Döhring trat schon 1956 entgegen der auch in ihrer Partei herrschenden Mutterideologie vehement für den Ausbau von Kinderhorten ein, Käthe Strobel brach mit ihrem "Sexualaufklärungsatlas" von 1969 Tabus. Annemarie Renger, als konservativ bekannt und den Begriff der "Frauenpolitikerin" stets von sich weisend, ist ein gutes Beispiel dafür, dass konsequente Politik für Frauen bei diesen Sozialdemokratinnen durchaus einher ging mit der Ablehnung alles "Feministischen": Renger sprach sich bereits 1962 für die Fristenregelung aus, was "die Männer belanglos fanden" (Renger) und kämpfte selbst als Bundestagspräsidentin gegen Lohndiskrimierung. Elisabeth Selbert wandte sich gegen den "Extremistenbeschluss" der Regierung Brandt, was die weitere politische Karriere der brillanten Juristin mit Sicherheit verhinderte.
Dass Pazifistinnen wie Alma Kettig oder Lisa Albrecht, die gegen die Wiederaufrüstung protestierten, von ihrer Partei geächtet wurden, verwundert nicht, dass es keine "Käthe-Strobl-Straße" gibt, schon eher. Immerhin nimmt ihr Satz "Ich habe als Hausfrau gelernt, wie sich eure Gesetze auf uns ausgewirkt haben" die Praxis des Gender Mainstreaming vorweg. Lisa Albrecht, 1946 als erste Frau in der Geschichte der SPD Landesvorsitzende, schlug einst vor, neben den Begriff des "Staatsmannes" den der "Staatsfrau" zu setzen, eine von vielen folgenlosen Ideen, von denen man durchaus einige wieder aufgreifen könnte.
Gisela Notz: Frauen in der Mannschaft, J.H.W. Dietz, Bonn 2003, 568 S., 34 EUR
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