Meine Kindheit verbinde ich mit zwei Gerüchen: Der Geruch nach Fisch und der Gestank, der einem Auto anhaftet, in dem Kinder sich übergeben - aber das kam nach dem Fischgeruch. Mein Vater roch nach Fisch. Immer. Selbst wenn er Sonntags ein frisches weißes Hemd anzog, auch wenn wir in der Nordsee gebadet hatten und nach Sand und Salzwasser rochen, roch er nach Fisch. Für mich war das der normalste Geruch der Welt und nie würde ich sagen, mein Vater "stank nach Fisch". Mein Vater arbeitete in einer Räucherei im Bremerhavener Fischereihafen, und der Fischgeruch bleibt für mich untrennbar mit ihm und meiner frühen Kindheit verbunden.
Als mein Vater starb, nachdem er schon über 20 Jahre in Köln gelebt hatte, rochen seine Kleider immer noch nach Fischereihafen, und ich habe ein Büchlein von ihm, von dem nur ich weiß, dass es nach Fisch riecht. Ich glaubte meine ganze Kindheit lang, alle Väter würden nach Fisch riechen.
Meine beiden Schwestern und ich holten meinen Vater oft von der Arbeit ab und durften dann unten in der Räucherei herumlaufen, in der von der Decke herunter goldene Bücklinge hingen. Mein Vater arbeitete darüber im Büro und auch dort roch alles nach Fisch: Die Stempel, die ich ausprobieren durfte, die Papiere, deren Rückseiten wir bemalen durften und auch die Gummiringe, mit denen mein Vater die Hemdärmel hochschob, damit die Manschetten nicht schmutzig wurden. Meine Eltern brachten uns bei, dass Vater "kaufmännischer Angestellter in der Räucherei" war und nicht "in der Räucherei" arbeitete. Dort arbeiteten dicke Frauen mit riesigen roten Händen und weißen Plastikschürzen, die vorne blutig waren, und sie sprachen Platt. Das konnten wir auch verstehen, aber wir sollten es nicht sprechen, weil es nicht "fein" war. Die Frauen nannten uns "seute Deerns" und ließen uns zugucken, wenn sie auf riesigen Holztischen die Fische ausnahmen. Sie rochen genauso wie mein Vater, obwohl der "was Besseres" war, und auch mein Onkel, der nicht nur "kaufmännischer Angestellter", sondern sogar Fischgroßhändler war, roch immer nach Fisch.
Der Fischgeruch mischt sich in meiner Erinnerung mit dem Geruch nach vollgekotztem Auto: Mein Vater kaufte einen dunkelgrünen VW, 1959 das erste Auto in unserer Straße, was sich die Hafenarbeiter dort noch nicht leisten konnten, obwohl sie auch so rochen wie mein Vater. Meine beiden Schwestern und ich glaubten jahrelang, "Auto" und "Volkswagen" seien ein und dasselbe und grundsätzlich dunkelgrün.
Mein Vater lud uns mit dem neuen Auto zur Fahrt "ins Blaue". Meine Mutter zog ihr bestes Kostüm an, wir drei kleinen Mädchen wurden feingemacht: Drei gleiche Kleider, selbst genäht, bei der Ältesten mit Taille, bei mir und der Jüngsten ohne und weiße Kniestrümpfe, die rutschten. Wir Kinder wurden hinten hinein gesetzt: Die Große hinter den Vater, die Mittlere in die Mitte, die Kleine hinter die Mutter. Das blieb so für die nächsten zehn Jahre. Mein Vater lenkte lässig rechtshändig, der linke Arm hing locker aus dem Fenster, es roch leicht nach Fisch und wir waren beeindruckt. Nach einer halben Stunde hielt mein Vater vor dem Ausflugslokal, in dem die Wirtin bei unserem Anblick wie immer schrie: "Das Dreimädelhaus, o wie sssööön!" und meine Mutter wie immer zischte: "Wehe, wenn ihr das nachmacht!" und die Wirtin gar nicht merkte, dass wir mit einem Auto gekommen waren und nicht zu Fuß. Mein Vater trank wie immer ziemlich viel Bier. Dann arrangierte er Mutter und Kinder nett vor dem Auto und schoss das historische Foto vom ersten Ausflug mit dem Volkswagen. Vor der Rückfahrt mussten wir die Hände waschen, meine Mutter klopfte vor dem Einsteigen den Sand von unseren Schuhsohlen, mein Vater putzte mit dem Taschentuch das geteilte Rückfenster. Er fuhr bierselig abwechselnd schnell und langsam. Meine Mutter sang, um uns bei Laune zu halten, mein Vater sang auch und fuhr im Takt von Im Frühtau zu Berge kleine Schlenker auf der leeren Chaussee. Wir brüllten alle drei "mir wird schlecht", meine Mutter rief "fahr doch langsam", und die Älteste erbrach sich stumm ins tanzende Auto. Meine kleine Schwester und ich versuchten, sie aus dem fahrenden Auto zu schmeißen. Mein Vater hielt schlingernd an, verkündete, es sei leider unmöglich, der Familie eine Freude zu machen, warf uns aus dem Auto und fuhr beleidigt alleine nach Hause.
Meine Mutter wischte vergeblich an unseren Sonntagskleidern herum, und wir trabten schmutzig und heulend auf der Landstraße nach Hause. Mein Vater putzte den Rest des Sonntags den Innenraum des Autos mit unzähligen Litern Seifenlauge. Den Geruch ist das Auto aber nie mehr losgeworden, auch alle nachfolgenden Familienautos rochen so, denn einem Kind wurde immer schlecht und selten konnten wir rechtzeitig Bescheid sagen oder es gab gerade keine Möglichkeit, anzuhalten. Mein Vater trank weiterhin Bier, wenn wir am Sonntag ins Blaue fuhren, aber das gemeinschaftliche Singen im Auto wurde verboten, um ihn wenigstens nicht in Versuchung zu führen, im Takt zu fahren.
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