Detektivischer Spürsinn, ungewöhnliche Wege der Quellensuche, Miss trauen gegenüber Quellen sind bei historischen Forschungen zur weiblichen Ideengeschichte in besonderem Maße gefordert - denn es gibt schon mal Frauen, die im Laufe der Geschichtsschreibung zu Männern mutieren. Wie es Jeanne Deroin geschah, einer berühmten "Veteranin der Arbeiterbewegung", die als erste Frau 1849 für das französische Parlament kandidierte, ein Grußwort zum Treffen der ersten internationalen Konferenz der Internationale nach London schickte und schrieb: "Gerade deshalb, weil die Frau dem Mann zwar gleich ist, aber doch nicht mit ihm identisch, sollte sie sich an der Arbeit für soziale Reformen beteiligen und darin die notwendigen Elemente verkörpern, die dem Mann fehlen, damit das Werk vollständig sein kann". Sie ging meistens als "Jean" in die Annalen ein.
Damit das Werk vollständig sein kann, finden junge Wissenschaftlerinnen trotz der in den vergangenen Jahren intensivierten feministischen geistigen Wühlarbeit immer noch zahlreiche blinde Flecken über den Einfluss von Frauen auf historische Prozesse und vor allem über die Nachhaltigkeit und Bedeutung ihres politischen Denkens. Dies ist der Ansatz von Antje Schrupp in ihrer gewichtigen Studie über Frauen in der Ersten Internationale (1864). Wie haben Feministinnen, die gleichzeitig Sozialistinnen waren, handelnd und/oder schreibend die Internationale beeinflusst und erlebt, inwiefern ist die "Frauenfrage" von ihnen selber thematisiert und diskutiert worden?
In den offiziellen Dokumenten, so hat Schrupp festgestellt, fehlen Frauen nahezu völlig. Dies freilich sei "kein Ausdruck von zeitgenössischer vorfeministischer Unaufgeklärtheit", sondern zeige nur, dass diese Frage auf der höchsten Ebene umgangen wurde. Auch auf den internationalen Kongressen und Sitzungen waren so gut wie keine Frauen vertreten. Dort, so Schrupps Befund, wurden die entscheidenden Fragen auch nicht diskutiert. Interessant sind vielmehr die politischen Auseinandersetzungen in den höchst unterschiedlich ausgerichteten regionalen Sektionen. Innerhalb dieser Diskussionsprozesse wird die Autorin fündig bei Einlassungen, Vermerken, Streitschriften, Artikeln, Verweisen von und über kluge Frauen.
Um das Verhältnis von sozialrevolutionären und feministischen Positionen herauszuarbeiten, hat Schrupp - getreu ihrem Motto "Ideen werden von Menschen aus Fleisch und Blut formuliert und vertreten" - vier Frauen als Beispiele ausgewählt, denen sie jeweils ein eigenes Kapitel widmet. Sie bezogen unterschiedliche Positionen und repräsentierten unterschiedliche Strömungen und Fraktionen, die wiederum charakteristisch für die verschiedenen Etappen der Geschichte der Internationale waren: Virginie Barbet war eines der Gründungsmitglieder der von Bakunin beeinflussten Allianz-Sektion in Lyon. Elisabeth Dmitrieff eine der Gründerinnen der marxistischen russischen Sektion in Genf und der "Union des Femmes", einer der stärksten Frauenorganisationen der Pariser Kommune. André Léo, die bekannteste der vier Frauen, war als Schriftstellerin eine der führenden politischen Kommentatorinnen der Pariser Kommune und nach deren Niederschlagung eine der Initiatorinnen der "antiautoritären Opposition" gegen den Generalrat. Victoria Woodhull gründete in New York die erste englischsprachige Internationale-Sektion.
Schrupp hat bewusst auf Biografien verzichtet, zum einen notgedrungen, da von Barbet sogar die Lebensdaten, von anderen viele Lebensstationen unbekannt sind, zum anderen aber auch, um sich auf das politische Engagement und die Bedeutung dieser Frauen in der Zeit der Ersten Internationale zu konzentrieren und diese in die jeweilige allgemeine Debatte einzuordnen: die zeitgenössischen Frauenbewegungen, die Diskussion über das Verhältnis der Geschlechter innerhalb der Internationale und die Auseinandersetzung um die richtige Strategie und Ausrichtung der Internationale.
Schrupp leistet Pionierarbeit und überzeugt mit ihrem bewunderungswürdigen Spürsinn beim mühseligen Durchforsten und Auffinden männlich sortierter Quellenpuzzle samt Überlieferungsfehlern. Das ist lehrreich, oft überraschend, liest sich spannend und erhellend. Allerdings wird die Autorin verdiente Anerkennung wohl nur in einem kleinen Kreis speziell interessierter Leserinnen finden, denn gerade dadurch, dass sie sich ausschließlich auf das politische Denken und Handeln dieser facettenreichen und mutigen Frauen konzentriert, werden deren Ideen uns, Schrupps eigener Intention entgegen, leider nicht präsentiert als Ideen von Menschen aus Fleisch und Blut.
Antje Schrupp, Nicht Marxistin und auch nicht Anarchistin/Frauen in der Ersten Internationale. Ulrike Helmer Verlag. Königstein/Ts. 1999. 334 S., 58,-DM.
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